Russischer Angriff auf Ukraine “jederzeit möglich”

US-Präsident Biden berät im Nationalen Sicherheitsrat über die Krise in der Ukraine. Die Nato sieht Zeichen für einen  “vollständigen Angriff“. Der britische Premier Johnson warnt vor dem potenziell größten militärischen Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.

Die US-Regierung hat ihre Warnung vor einem Angriff Russlands auf die Ukraine bekräftigt. Die Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden gingen weiterhin davon aus, dass “Russland jederzeit einen Angriff auf die Ukraine” starten könnte, teilte die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, am Samstagabend mit. Biden beobachte die Entwicklungen. Für Sonntag sei eine Sitzung des US-Präsidenten mit dem Nationalen Sicherheitsrat angesetzt.

Biden sei auch über die Gespräche von Vize-Präsidentin Kamala Harris mit Verbündeten auf der Münchner Sicherheitskonferenz unterrichtet worden. Biden hatte am Freitag erklärt, er gehe davon aus, dass Moskau einen Angriff auf die Ukraine und auch auf deren Hauptstadt Kiew in den nächsten Tagen plane. Harris sprach in München von einem “Drehbuch russischer Aggression” und drohte Moskau mit massiven Sanktionen.

Der britische Premierminister Boris Johnson warnt laut BBC mit Blick auf Russlands Vorgehen vor dem potenziell größten militärischen Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. “Von dem, was wir sehen, wird für etwas geplant, das wirklich der größte Krieg in Europa seit 1945 sein könnte, rein was das Ausmaß angeht.”

Johnson drohte Russland für den Fall einer Invasion der Ukraine mit Sanktionen, die nach seinen Worten deutlich weitreichender ausfallen würden als bislang in der Öffentlichkeit angedeutet. Die USA und Großbritannien hätten vor, den Zugang russischer Firmen zu Dollar und Pfund zu kappen, sagt Johnson der BBC.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj betonte unterdessen in einem Telefonat mit Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron die Dialogbereitschaft seines Landes im Konflikt mit Russland. Wie es am Samstagabend aus dem Élysée-Palast hieß, habe Selenskyj in dem Gespräch außerdem zugesichert, nicht auf Provokationen moskautreuer Separatisten in der Ostukraine zu reagieren. Er habe sich entschieden geäußert, eine weitere Eskalation verhindern zu wollen. Selenskyj teilte mit, er und Macron hätten sie angesichts einer Zunahme von Explosionen und Verletzungen des Waffenstillstands über eine politisch-diplomatische Lösung für die Ostukraine diskutiert.

Marcron telefoniert mit Putin

Macron will am Sonntagvormittag erneut mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin telefonieren, nachdem er vor zwei Wochen mit dem Kreml-Chef bereits in Moskau um eine diplomatische Lösung der Krise gerungen hatte. Macron unternehme die letzten möglichen Anstrengungen, um einen Konflikt in der und um die Ukraine zu verhindern, hieß es in Paris. Es gehe um Perspektiven für die allernächsten Tage und ein Senken des Drucks. Wie es aus dem Élysée-Palast angesichts der aufflammenden Gewalt in der Ostukraine hieß, habe “eine Form des Krieges” begonnen. So schnell wie möglich müsse ein Ausweg aus der Krise gefunden und deeskaliert werden.

Russland hat nach westlichen Angaben etwa 150.000 Soldaten an der Grenze zum Nachbarland Ukraine zusammengezogen, streitet aber Angriffspläne ab. Die Lage verschärft sich vor allem an der Frontlinie zwischen der ukrainischen Armee und den von Moskau unterstützten Separatisten, die schon seit Jahren den Osten des Landes kontrollieren.

Nato befürchtet „vollständigen Angriff”

Die Nato erwartet eine umfassende Attacke der russischen Armee auf das Nachbarland Ukraine. “Alle Zeichen deuten darauf hin, dass Russland einen vollständigen Angriff auf die Ukraine plant”, sagte der Generalsekretär der Militärallianz, Jens Stoltenberg, am Samstagabend in den ARD-“Tagesthemen”. Der Norweger, zurzeit Gast der Münchner Sicherheitskonferenz, sprach von einem fortgesetzten militärischen Aufmarsch. “Es werden keine Truppen zurückgezogen, wie Russland das angibt, sondern es kommen neue Truppen hinzu.” Es gebe außerdem Anzeichen, dass Russland sich darauf vorbereite, einen Vorwand für einen Angriff zu schaffen.

Die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht begrüßte die Entscheidung der Nato, die Bereitschaftszeiten für mehrere Zehntausend Soldaten der Militärallianz drastisch zu verkürzen. Russland habe inzwischen alle Vorbereitungen getroffen, um sein Nachbarland Ukraine angreifen zu können, sagte die SPD-Politikerin am Samstagabend im ZDF-“heute journal” mit Blick auf den massiven Truppenaufmarsch nahe der Grenze. “Wir sind gut beraten, vorbereitet zu sein.” Auf die Frage, ob denn auch ein russischer Angriff auf NATO-Mitglieder, etwa die baltischen Staaten oder Polen, zu befürchten sei, sagte die Ministerin: “Die Bedrohung ist sehr groß in dieser Region.” Und die Nato-Verbündeten hätten ein Anrecht, “entsprechend gesichert zu sein”.

Neue Angriffe in der Ostukraine

Im Konfliktgebiet in der Ostukraine ist es auch am Sonntag zu mehreren neuen Angriffen gekommen. Die Aufständischen in den Gebieten Luhansk und Donezk teilten in der Früh mit, seit Mitternacht seien mehrfach Dörfer beschossen worden. Sonntagvormittag waren mehrere Explosionen in Donezk zu hören. Die Bewohner werden über einen Lautsprecher zur Vorsicht aufgerufen. Auch die ukrainische Armee listete in der Früh mehrere Verstöße gegen den geltenden Waffenstillstand auf.

Es soll zudem erneut zu Opfern gekommen sein. Die jeweiligen Angaben ließen sich aber nicht unabhängig überprüfen.

Bei dem Beschuss eines Dorfes im Konfliktgebiet sind nach Angaben der von Russland unterstützten Separatisten zwei Zivilisten getötet worden. Der Zwischenfall habe sich in Pionorskoje im Gebiet Luhansk ereignet, sagte ein Sprecher am Sonntag der russischen Nachrichtenagentur Interfax. Die Leichen sollten demnach zu Mittag aus den Trümmern geborgen werden. Die Separatisten beschuldigten die ukrainische Armee, für den Angriff verantwortlich zu sein. Fünf Wohnhäuser seien zerstört worden. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.

Das Militär hatte bereits am Samstag von zwei getöteten Soldaten gesprochen. Nach Einschätzung internationaler Beobachter steigt die Zahl der Verletzungen des Waffenstillstands massiv. In der Region Luhansk seien 975 Verstöße festgestellt worden, darunter 860 Explosionen, hieß es in einer Mitteilung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in der Nacht auf Sonntag. Für die Region Donezk wurden 591 Verstöße gemeldet, darunter 535 Explosionen. Diese Zahlen bezogen sich auf die Lage am Freitag.

Österreich schickt aufgrund der sich dramatisch eskalierenden Lage ein Krisenteam in das Land. Die Gruppe bestehe aus sieben erfahrenen Mitarbeitern des Außen-, Innen-und Verteidigungsministeriums, wie es am Sonntag in einer Aussendung des Bundeskanzleramts hieß. Das Team, dem auch Spezialisten des Einsatzkommandos Cobra angehören, war Sonntag früh bereits am Weg nach Kiew.

Das ukrainische Militär hat nach eigenen Angaben von Sonntag früh den Betrieb an einem der sieben Kontrollpunkte vorläufig eingestellt, über die man in Rebellengebiete im östlichen Donbass gelangt. Grund sei schwerer Beschuss. Die Sicherheit der zivilen Bevölkerung könne nicht garantiert werden. So lange “die Phase der Bedrohung” anhalte, bleibe der Betrieb an dem Kontrollposten ausgesetzt. Vertreter der prorussischen Separatisten warfen wiederum der Ukraine in sozialen Medien vor, von ihnen kontrollierte Gebiete zu beschießen.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) beklagte, dass durch Beschuss in den vergangenen Tagen mindestens zwei Pumpstationen im Gebiet Donezk ausgefallen seien. Diese versorgten mehr als eine Million Menschen mit Trinkwasser. “Wir sind sehr besorgt über die Entwicklungen in der Ostukraine”, sagte Florence Gillette, Leiterin der IKRK-Delegation in der Ukraine.

Zehntausende Flüchtlinge in Russland

Russland hat im Konflikt in der Ostukraine nach eigenen Angaben Zehntausende Menschen aus dem Nachbarland aufgenommen. Zivilschutzminister Alexander Tschuprijan sprach am Sonntag der Staatsagentur Tass zufolge von mehr als 40.000 Flüchtlingen, die in der Region Rostow im Süden des Landes angekommen seien. Sie sind demnach in 92 Notunterkünften untergebracht worden.

Die Separatistenführungen hatten am Freitag vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Lage zur Flucht aufgerufen und den Appell mit einem drohenden Angriff durch ukrainische Regierungstruppen begründet. Ukrainische Regierungsvertreter und das Militär betonten mehrfach, keine Offensive gegen die Region zu planen.

Aus dem Gebiet Donezk sollten nach früheren Angaben der Separatisten insgesamt 700.000 Menschen in Sicherheit gebracht werden. Busse und Züge standen bereit. Der russische Präsident Wladimir Putin wies die Regierung in Moskau an, den Flüchtlingen unter anderem pro Person 10.000 Rubel (rund 116 Euro) auszuzahlen.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) beklagte, dass durch Beschuss in den vergangenen Tagen mindestens zwei Pumpstationen im Gebiet Donezk ausgefallen seien. Diese versorgten mehr als eine Million Menschen mit Trinkwasser. “Wir sind sehr besorgt über die Entwicklungen in der Ostukraine”, sagte Florence Gillette, Leiterin der IKRK-Delegation in der Ukraine.

(APA/Reuters/dpa)

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