Wie die Betreuung der demenzkranken Oma eine Familie überfordert
Diesmal kam der Anruf am Sonntag um sieben Uhr morgens. Nicole Steinacher setzte sich ins Auto und fuhr die 28 Kilometer von ihrer Wiener Neustädter Wohnung nach Berndorf, um vor einem grauen Mehrparteienhaus an der Durchzugsstraße zu halten. Oben im zweiten Stock, in Top 39, fand sie ihre 90-jährige Oma auf dem Boden liegen. Wieder einmal war die gebrechliche Dame hingefallen. Den Griff zum Handy hatte sie noch geschafft. Den Weg auf die Toilette nicht mehr.
Steinacher erzählt die Geschichte unaufgeregt, ohne dramatische Färbung in der Stimme. Spontane Einsätze wie diese sind für sie kein Ausreißer, sondern die Routine: “Ich bin 24 Stunden am Tag auf Abruf.”
Die Kräfte schwinden
Die Mittvierzigerin rückt nicht deshalb ständig aus, weil das ihr Beruf wäre. Steinacher zählt zu jenen geschätzten 800.000 großteils weiblichen Menschen, die sich hierzulande um pflegebedürftige Angehörige kümmern. Auf sich allein gestellt ist sie dabei nicht, auch andere Verwandte helfen mit, allen voran ihre 68-jährige Mutter. Doch nun stoße die Familie an die Grenzen ihrer Kräfte, sagt Steinacher: “Wir sind massiv überfordert, wissen aber nicht, wie es weitergehen soll. Überall werden wir vertröstet.”
Es ist Mittwochnachmittag, Steinacher hat ihren Beruf – die psychosoziale Beratung – wieder einmal beiseitegeschoben. Bei der Oma gab es Unaufschiebbares zu erledigen: auf die Toilette und ins Bad helfen, zusammenräumen, putzen, Essen vorbereiten. Auch die Suche verlegter Sachen gehöre zum üblichen Programm, erzählt sie: “Den Schmuck haben wir einmal im Blumentopf gefunden.”
39 Quadratmeter hat die Wohnung der Großmutter. Den größten Teil nimmt ein L-förmiger, mit grauem Teppich ausgelegter Raum ein. Die längere Seite wird von einer Küchenzeile begrenzt, an der kürzeren ist unter Familienfotos und einem überdimensionierten Holzrosenkranz das Bett platziert. Die meiste Zeit verbringt die alte Dame, die gegen ihre großgewachsene Enkelin fast kindlich klein wirkt, aber auf der Couch in der Mitte, den Fernseher im Blick. Dass der Wohnkomplex auf Senioren ausgerichtet ist, lassen die Stufen zum Balkon nicht vermuten.
Nach dem Spital ging es bergab
Ein ganzes Jahrzehnt wohnt sie schon hier, und bis zum Sommer des Vorjahres war auch alles recht rundgelaufen. Immer wieder flackerten zwar Momente der Verwirrung auf, aber noch fand sich die Seniorin gut im Alltag zurecht. Sie ging selbst einkaufen, verabredete sich mit Freundinnen im Café, war regelmäßiger Gast beim wöchentlichen Pensionistentreff. Enkelin und Tochter halfen aus, wenn etwa ein Großeinkauf, eine Reparatur oder andere spezielle Handgriffe anstanden.
Doch das sollte nicht so bleiben. Erst erlitt die betagte Frau einen epileptischen Anfall, der nur dank rechtzeitiger Wiederbelebung nicht letal endete, dann zwangen Magenprobleme zu einem weiteren Spitalsaufenthalt. Als Folge setzte, nicht unüblich, ein Demenzschub ein. Ständige Versuche, aus dem Krankenhaus zu flüchten, gaben einen Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte.
“Massiv bergab” sei es seit jenen Tagen gegangen, erzählt Steinacher: Immer seltener stellten sich die hellen Momente ein, immer häufiger die “Blackouts” – gepaart mit aggressiven Anwandlungen. Die Oma reiße die Schubladen heraus, werfe mit Sachen herum, mitunter sogar mit Geschirr. Nicht nur einmal sei sie schreiend auf jene losgegangen, die ihr zur Seite stehen: “Ihr stehlt mir all mein Geld!”
Keine Kapazitäten
Leicht zu verdauen sei das nicht, sag Steinacher. Sie selbst bringe aus ihrem Beruf ja eine gewisse psychische Robustheit mit, doch ihre Mutter – die Tochter der Betroffenen – habe zu kämpfen: “Wir sind ja auch nicht vom Fach, um darauf richtig reagieren zu können.”
Professionelle Unterstützung erhält die Familie anfangs nur von einer Heimhilfe, die einmal täglich kommt. Sie habe versucht, auf mehrmalige Besuche pro Tag aufzustocken, erzählt Steinacher – vergeblich. “Keine Kapazitäten vorhanden”, hätten die regionalen Anbieter im Bezirk Baden beschieden.
Auf eigene Faust aufgetrieben hat die umtriebige Enkelin aber eine Pflegefachassistenzkraft, die nun – formell angestellt in der Firma der Mutter – zusätzlich mithilft. Für den Lohn reichen Pflegegeld und Pension der Großmutter allerdings längst nicht mehr aus. 1000 bis 1500 Euro sind pro Monat aus privater Tasche zu zahlen, plus Sozialabgaben.
Lückenlos ist die Betreuung damit noch lange nicht – und das lasse ihr keine Ruhe, sagt Steinacher. In den letzten beiden Monaten sei die Oma zehnmal im Spital gelandet, weil sie gestürzt war. Was, wenn ein Sturz – gerade in der Nacht – nicht so glimpflich ablaufe? Doch einer 24-Stunden-Betreuung, die ein eigenes Zimmer benötigt, bietet die Wohnung keinen Platz. Sie selbst, so Steinacher, wohne im zweiten Stock ohne Lift.
Die Familie hat deshalb Heime in der Umgebung durchtelefoniert – und sich reihenweise Absagen abgeholt. Zwei Institutionen hätten Angebote zurückgezogen, als die aggressiven Phasen der Oma zur Sprache kamen: untauglich für ein Doppelzimmerbett. Auf der Bezirkshauptmannschaft (BH), offizielle Vermittlungsstelle, habe es geheißen: Sie stehe auf der Warteliste auf Position 91.
Unter der kritischen Grenze
Eine Anfrage des STANDARD bei der BH blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet. Tatsache ist aber, dass Pflegeheimplätze grundsätzlich nur an Anwärter ab Pflegestufe vier vergeben werden, Ausnahmen gibt es unter bestimmten Umständen. Steinachers Großmutter befindet sich in Stufe zwei.
Daran änderte auch ein Antrag auf Erhöhung nichts. Der von der Pensionsversicherungsanstalt geschickte Gutachter habe zwar die fortschreitende Demenz registriert, da die Patientin sogar nach ihm getreten habe. Doch mit Hinweis auf die noch vorhandene Mobilität wurde das Ansinnen abgeschmettert – ein Witz, wie die Angehörige findet: “Oft schafft sie es nicht einmal allein aufs Klo.”
Beim Besuch des STANDARD scheitert der Versuch, allein von der Couch aufzustehen. Doch dank helfender Hand einmal am Rollator angelangt, schlägt die Dame ein gehöriges Tempo an – “ein Teil des Problems”, sagt ihre Enkelin. Schwer ist ihre Großmutter zu verstehen, die Sprache funktioniert nur eingeschränkt. Manche Fragen – “Gehen Sie noch einkaufen?” – münden in ein unbestimmtes Lächeln, andere hingegen lösen sehr wohl eine Plauderei aus. Als es um den eigenen Balkon geht, schiebt sie das Hosenbein empor und erzählt von einem Sturz auf die hartkantigen Stufen. “Bis heute ist die Narbe zu sehen”, dolmetscht Steinacher.
Berechtigte Beschwerden
Wie die Qualität der Einstufungen, von denen auch die Höhe des Pflegegeldes abhängt, einzuschätzen ist? “Durchwachsen” lautet der Ausdruck, der Michaela Wlattnig dazu einfällt. Im Vergleich zu früher habe sich einiges gebessert, doch der Gutachter sehe halt nur eine Momentaufnahme, sagt die Wortführerin der Pflege- und Patientenanwältinnen Österreichs. Ihrer Erfahrung nach hätten Beschwerden der Betroffenen oft Berechtigung: “Man muss sich auf die Füße stellen und Einspruch erheben.”
Fälle wie jenen aus Berndorf hält Wlattnig geradezu für ein Paradebeispiel, um für die Zukunft zu lernen: Es brauche ein flächendeckendes “Case-and-Care-Management”, um den Unterstützungsbedarf in jedem einzelnen Fall bis ins Detail abzuklären und eine maßgeschneiderte Versorgung zu finden. Damit ließen sich ebenso unnötige Übersiedlungen in ein Pflegeheim verhindern wie mit einer zweiten dringenden Investition: Für älteren Menschen, die aus einem Spital entlassen werden, brauche es eine taugliche Übergangspflege, statt sie unbetreut nach Hause zu schicken. Sonst bestehe die Gefahr, dass viele nicht mehr auf die Beine kommen.
(Noch) kein Pflegenotstand
Beim Kampf gegen den Personalmangel habe die alte Regierung schon einige Hausaufgaben gemacht, urteilt Wlattnig – das gelte es im Schulterschluss mit den zuständigen Ländern weiterzutreiben. Ob und wie lange aktuell auf Heimplätze oder bestimmte mobile Dienste zu warten ist, schwanke stark nach Region. Faktum sei: Überlastetes Personal führe zu sinkender Qualität. “Mobile Pflegerinnen etwa haben oft nicht mehr die Zeit, überhaupt noch ein paar Worte zu wechseln.”
Von einem “Pflegenotstand” will Wlattnig dennoch nicht sprechen. So manche Klage über einen nicht gefundenen Heimplatz sei zu relativeren: “Oft erwarten sich die Angehörigen einen Platz in nächster Umgebung. Aber das ist ohne Wartezeit nicht realistisch.”
So eng fasst Nicole Steinacher den Radius nicht. Doch in Reichweite müsse das neue Domizil schon sein. Einem vielversprechenden Heim habe sie absagen müssen – allein die Hinfahrt hätte zwei Stunden gedauert. Tägliche Besuche bei der Oma seien Grundbedingung: “Wir sind ihr einziger Strohhalm.” (Gerald John, 21.9.2024)
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