Schriftsteller Thomas Köck: “Und die Rich Kids träumen von Marskolonien”

Der Schriftsteller Thomas Köck.
Thomas Köck kritisiert die Verschiebung des politischen Diskurses: “Die Themen werden längst von rechts gesetzt.”
Foto: Max Zerrahn

Ein Jahr lang beobachtete Thomas Köck die österreichische Innenpolitik. Das Ergebnis ist die tagebuchartige Chronik der laufenden Entgleisungen (Suhrkamp 2024). FPÖ-Chef Herbert Kickl nennt er ausschließlich “herbert”, nicht nur im Buch. Nach dem STANDARD-Gespräch schreibt Köck: “Wenn das aus welchen Gründen auch immer nicht geht, so be it, ich kann den ganzen Namen nicht mehr schreiben, hab ich gemerkt.” So be it. Wie auch die konsequent gegenderte Sprache. Das Interview gibt den sprachlichen Zugriff des Autors auf die Welt authentisch wieder.


Live zu hören ist Thomas Köck am 20. Oktober (11 Uhr) im Burgtheater bei der Diskussionsveranstaltung “Europa im Diskurs”, einer Kooperation von Burgtheater, Erste Stiftung, Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) und DER STANDARD. Unter der Moderation von STANDARD-Vizechefredakteurin Petra Stuiber diskutieren neben dem Autor und Dramatiker Thomas Köck die Kommunikationsexpertin Heidi Glück, die Journalistin Edit Inotai, die auch Senior Fellow am Centre for Euro-Atlantic Integration and Democracy (CEID) in Budapest ist, sowie der Neuzeithistoriker Oliver Rathkolb von der Universität Wien über die Frage “Wohin steuert Österreich nach der Wahl?”.


STANDARD: In Ihrem Buch Chronik der laufenden Entgleisungen steht am 4. August 2023 folgender Eintrag: “Eine erste Zwischenbilanz zur täglichen Nahtoderfahrung mit der österreichischen Innenpolitik: Nein, lieber nicht.” Erlauben Sie mir knapp drei Wochen nach der Nationalratswahl ein “Bitte doch”. Welche Bilanz ziehen Sie nach einem Jahr Österreich-Beobachtung?


Köck: Wenn man zu lange in der Scheiße sitzt, merkt man nicht, dass es stinkt.


STANDARD: Und was sagen Sie zum Wahlergebnis? Eine “Entgleisung”?


Köck: Entgleisung mit Ansage. Die Kipppunkte in Demokratien sind ja europaweit erreicht. Wir merken das erst im Nachklapp, wie Fische, um die herum sich schon lange giftige Algen ausbreiten. Wenn dann die ersten tot vorbeitreiben, realisieren die anderen zu spät, worin sie eigentlich schwimmen. So wie seit vielen Jahren Menschen auf die alljährlichen Jahrtausendhochwasser, die Hitzetoten aufmerksam machen und trotzdem alle bei jedem neuen Rekordwetterereignis überrascht sind, so machen seit Jahren Menschen darauf aufmerksam, dass das Gleichheitsversprechen marktwirtschaftlicher demokratischer Gesellschaften nicht mehr hält und kippen wird.

Überflutete Felder und Wiesen in Niederösterreich aus der Luft fotografiert.
Das jüngste Hochwasser, fotografiert vom Bundesheer im Raum Niederösterreich.
BMLV/Daniel Trippolt

STANDARD: In welchem Sinne verwenden Sie eigentlich die für Ihr Buch titelgebenden “Entgleisungen”? Da gibt es ja verschiedene Ursachen. Falsch gestellte Gleise? Falsches Tempo? Materialverschleiß? “Menschliches Versagen”?


Köck: Ich bin Reisen mit der Deutschen Bahn gewöhnt und bin froh, wenn überhaupt noch was übers Gleis kommt. Ansonsten denke ich auch an Derailing, also die bewusst angewandte Strategie in Diskussionen, vom eigentlichen Kernthema abzulenken und zu zerstören. Das ist auch eine rechte Strategie, um Demokratien zum Entgleisen zu bringen. Da kommt dann alles zusammen: jahrelanges Missmanagement auf der obersten Ebene, selbstherrliche Funktionär:innenebene, karrieregeile Nachwuchs-Lokführer, die zu kurz kommen und nach mir die Sintflut rufen, und lange liegengebliebene marode Gleise. Nur: Dass die Gleise repariert gehören, ist schon länger bekannt. Jetzt fliegen alle in Zeitlupe aus der Kurve und sind überrascht, dass marode Gleise keine Gesellschaft mehr tragen können.


STANDARD: Die FPÖ hat gewonnen, noch will niemand mit Herbert Kickl koalieren, der “herbertkomplex”, wie Sie das Szenario einer Regierung mit dem FPÖ-Chef nennen, “ist die reine Möglichkeitsform, die bereits so viel über die aktuelle Situation und den Zustand dieser Zeit aussagt”. Wie stellen Sie sich diese “Möglichkeitsform” vor?


Köck: Als herbert Innenminister war, wurde der Verfassungsschutz von Beamten der EGS (Einsatzgruppe zur Bekämpfung der Straßenkriminalität, Anm.), die eigentlich für Drogenrazzias vorgesehen sind, gestürmt. Der leitende Beamte der EGS befand sich wohl auch in der Mailingliste eines überwachten Neonazis. Wenn jetzt auf der Wahlparty des ehemaligen Innenministers Rechtsextreme lachend White-Power-Gesten zeigen und draußen Rechtsextreme mit Remigrationsbannern durch die Stadt laufen, sehen wir bereits die Realität. Der Blick nach Ungarn genügt, um zu sehen, worauf das hinauswill. Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass der herbertkomplex längst aktiv ist: Die Sprache, die Diskussionen, die Narrative, die Themen werden längst von rechts gesetzt. Nahezu alle Parteien und Erzählungen über Europa müssen sich mittlerweile zu Themen extremer, rechter Parteien verhalten: Zäune, Abschiebungen, Mauern, Restriktionen, Grenzen, Spaltung.


STANDARD: Im Buch heißt es: “Der herbertkomplex ist der Rechtsruck, der kein Ruck mehr ist, sondern eine mittlerweile jahrzehntelange Verschiebung sämtlicher demokratischer Grundprinzipien.” Worin zeigt sich diese Verschiebung am deutlichsten?


Köck: Einerseits in der Themensetzung. Wird heute über Europa, über europäische Nationen gesprochen, dann wird über Migration und Mauern gesprochen. Wenn ich fünfzehn, zwanzig Jahre zurückdenke, ist die Veränderung massiv. Andererseits zeigt sich deutlich, dass dieser Diskurs, das Sprechen über die anderen, über Mauern, Zäune und Festungen auch die europäische Gesellschaft und Idee verändert. Autoritäre Kulte und Einstellungen verfangen immer deutlicher auch in eigentlich aufgeklärten, liberalen, offenen europäischen Gesellschaften – was an den Rändern Europas geschieht, bleibt eben nicht dort, es strahlt nach innen ab. Eine Gesellschaft, die Mauern baut, mauert sich ein, stagniert und beraubt sich des eigenen Fortschritts.

Ein Grenzzaun an der ungarisch-serbischen Grenze.
Ein Zaun an der Grenze zwischen Ungarn und Serbien.
REUTERS/Marton Monus

STANDARD: Ist das nur die Schuld der Politik, oder müssen wir alle uns auch ein paar Fragen stellen, was unsere Demokratiefähigkeit anlangt?


Köck: Das ist wie die Frage mit dem ökologischen Fußabdruck, wo auch die Schuld individualisiert und erklärt wurde: Wenn privilegierte Menschen in Industrieländern weniger plastikverpackte Lebensmittel kaufen, kriegen wir den Klimawandel hin – das ist natürlich unscharf und sorgt nur dafür, dass die Verantwortung der Big Player hinten runterfällt. Es gibt ganz offensichtlich Unmut in europäischen Gesellschaften – und das hat mit Ausbeutung zu tun. Ungebremster, ungerechter Verteilung von Macht und Privilegien. Dass andere Parteien es nicht schaffen, diese Themen leidenschaftlich zu besetzen, Utopien, Antworten, Entwürfe und Lösungen zu formulieren, den Gemeinsinn zu aktivieren, Solidarität über das Wachstum zu stellen, ist letztlich nicht die Schuld der Menschen, die die Zeitung aufschlagen und lesen, dass sich ein Investor einen dreistelligen Millionenbetrag ausbezahlen lässt, nachdem tausend Menschen in derselben Firma ihre Jobs verloren haben.


STANDARD: Sie möchten mit Ihrem Buch auch verstehen, “wie Österreich zum Prototyp rechter Subjektbildung in Europa werden konnte”. Lässt sich die Kernaussage in einer kompakten Antwort zusammenfassen?


Köck: Alexander Gauland, ehemaliger AfD-Vorsitzender, sagte bereits 2017: “Alles, was sie machen, ist für uns natürlich vorbildhaft. Die AfD kann viel von der FPÖ lernen.” Und als Steve Bannon und Donald Trump die Republikaner als fremdenfeindliche, rassistische Partei neu aufstellten, machten sie das mit dem Motto: “America First”. 1993 hieß das noch “Österreich zuerst” und war ein ausländerfeindliches Volksbegehren der FPÖ. Unter Wolfgang Schüssel wurden rechtsextreme Positionen – völkische, antisemitische, fremdenfeindliche Narrative, die aus mir unverständlichen Gründen rechtspopulistisch genannt werden – normalisiert und europaweit das erste Mal nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in eine Regierung geholt. Was damals europaweite Sanktionen nach sich zog, machte internationale Rechte bis Rechtsextreme natürlich auf Österreich aufmerksam. Sie schauten sich an, wie das funktionieren konnte, wie eine radikale antidemokratische Partei mit antisemitischen Sprüchen, Islamophobie, Fremdenhass, gegründet von Alt-Nazis in die Regierung kommen konnte – Regierungen, die seither viermal scheiterten. Das ist es letztlich, was Rechtsextreme wollen: Demokratie blockieren und zerstören.

Eine rote Kappe mit der Aufschrift
Bevor es “America first” gab, hieß es hierzulande schon viel früher “Österreich zuerst”.
AFP/ALEJANDRA RUBIO

STANDARD: Dazu passt der Satz im Buch: “Ich finde es bedenklich, mit welcher Selbstverständlichkeit bestimmte Sätze und Worte ihren Weg in den Alltag finden.” Welche zum Beispiel meinen Sie? Gibt es konkrete Beispiele, etwa aus dem Wahlkampf?


Köck: Im Café Landtmann, wo ich zufällig, wirklich komplett zufällig, landete am Wahlsonntag, gab’s so einen Live-Kommentar zu den Wahlen von ehemaligen Politgrößen, da lautete die zweite Frage aus dem Publikum von einer Frau, die von sich sagte, bestimmt nicht die FPÖ zu wählen, dass man wohl beobachten könne, dass Österreicher:innen in Österreich mittlerweile zur Minderheit geworden sind. Da ist mir der Mund offen stehen geblieben. Und nicht nur mir. Ich meine, im Landtmann, in Wien; wer in dieses Café Landtmann geht, ist keine Minderheit in Österreich, vielleicht ökonomisch, weil sich das Einkommen im obersten Prozent bewegt, aber ich finde, das fasst alles bereits gut zusammen. Dieses Lamento von der Angst vor Überfremdung ist das Gift, an dem Europa heute am allermeisten leidet, dieses Abarbeiten an vermeintlicher nationaler Identität und Reinheit, Umvolkung und anderen Unsinnigkeiten. Und vor allem die Menschen, die am wenigsten damit zu tun haben, die in den homogensten Orten leben, quasseln am meisten davon.


STANDARD: Sie schreiben in den Entgleisungen: “Wer wissen möchte, was in Europa möglich ist, sollte Österreich sehr genau im Blick behalten.” Worauf würden Sie den Blick da lenken wollen?


Köck: Momentan ringt die Demokratie um ihre Verfassung – es könnte auch eine Lichtstunde für demokratische Institutionen werden. Wenn wir uns klarmachen, dass Demokratien nicht nur ökonomisches, sondern vor allem gesellschaftliches Wachstum garantieren sollen, wenn ökonomische Ungleichheit, Bildung, Rassismus, Sexismus, Nachhaltigkeit, Inflation und so weiter umgehend angegangen werden, wenn die mittlerweile deutlich fühlbar offene ökonomische Schere wieder geschlossen werden könnte, dann könnte das alles auch ein anderes Ende nehmen. Das war ja einmal die Idee der Demokratie, dass tatsächliche Minderheiten darin zu einer Repräsentation gelangen und die Gesellschaft so zu einer fairen und gerechten Balance finden konnte – demokratische Ideen und Überzeugungen brauchen aktuell allerdings einen langen Atem, weil jeder Fehltritt momentan antidemokratischen Kräften in die Hände spielt, und ja, das halte ich für brandgefährlich – europaweit.


STANDARD: Sie leben großteils in Berlin. In Deutschland ist die AfD auf dem Vormarsch, wenngleich nicht in dem Ausmaß wie die FPÖ in Österreich. Worin ähneln die Innenpolitiken der beiden Länder einander, worin unterscheiden sie sich?


Köck: Hm, na ja, von Deutschland aus betrachtet, wirkte halt die österreichische Innenpolitik lange wie ein riesiger, verrückter Zirkus im Garten nebenan, da wurde ja genüsslich drüber gelacht, schaut mal, die Ösis mit ihren Nazis und so weiter, und es wurde lange für unmöglich gehalten, dass Derartiges in Deutschland passieren könnte. Wiewohl Jörg Haider Stammgast im deutschen Fernsehen und in Polittalkshows war und bisweilen hier eine enorme Plattform fand. Mittlerweile eskaliert es auch im deutschen Garten zunehmend. Der große Unterschied ist vermutlich, dass die AfD einfach sehr viel später erst auf den Plan trat und ihre autoritären Antworten auf gefühlte oder reale Kränkungen präsentieren konnte. Ihr Aufstieg verlief analog zu dem der FPÖ unter Jörg Haider, allerdings viel schneller, weil sie eben schon gelernt hatten. Die AfD wurde bis dato noch nicht als Regierungspartei im Bund oder in Ländern legitimiert. Das ist natürlich ein Unterschied. Wer mit einer Partei der extremen Rechten in einem Bundesland koaliert, tut sich schwer zu erklären, warum die Partei woanders nicht okay sein sollte. Übrigens haben sich beide Parteien, also die FPÖ und die AfD, aus einer Mischung aus wirtschaftsliberalen bis radikal libertären wirtschaftlichen Ansichten und rechts außen gegründet und mit autoritärem, faschistischem, völkischem Blut-Heimat-und-Boden-Gedöns den demokratischen Diskurs verschoben und spiegeln damit eigentlich schon eine große Ähnlichkeit in den momentanen innenpolitischen Diskursen in beiden Ländern wider.

Jörg Haider, am Steuer, und Wolfgang Schüssel in Haiders Porsche-Cabrio.
Die blau-schwarzen Koalitionäre im Porsche – am Steuer Jörg Haider, als Beifahrer Wolfgang Schüssel, der Kanzler, der Schwarz-Blau anführte.
GERT EGGENBERGER / APA / picture

STANDARD: Welche Rolle haben Künstler:innen in diesem Zusammenhang? Wann soll – oder vielleicht: muss – Kunst, müssen Künstler:innen intervenieren, sich also aktiv einbringen, einmischen in die Politik und den Diskurs? Verstehen Sie sich als “politischer Künstler”?


Köck: Alles ist politisch. Als Künstler:innen sind wir niemandem etwas schuldig, darin liegt unsere Kraft. Ob es mal deutlicher wird oder poetischer, indirekter, entscheidet oft die Tagesverfassung oder die Form, in der ich mich entscheide zu arbeiten. Ich spreche hier als weißer Mann, das ist schon ein Politikum, denn Männer, und vor allem weiße Männer, werden nie nach ihrem Geschlecht beziehungsweise ihrer Herkunft befragt, wenn sie sich politisch äußern. Sie äußern sich unmarkiert. Und ich finde es insofern als selbstverständlich, meine Arbeit so einzusetzen, dass ich zumindest versuchen kann, den Faschist:innen nicht den ganzen Zirkus zu überlassen und auf Vulnerabilitäten, Hintergründe und Ungerechtigkeiten hinzuweisen.


STANDARD: Quasi als Vorworte haben Sie Ihrem Buch zwei Zitate vorangestellt. Eines von Margaret Thatcher, das sie 2002 bei einem Dinner gesagt hat: “– Mrs. Thatcher, tell me, what would you say was your biggest political achievement?” – “Tony Blair and New Labour. We forced our opponents to change their mind.” Übertragen wir es bitte in den österreichischen Kontext. Wer hat den politischen Diskurs nachhaltig wohin verschoben?


Köck: Ich würde schon sagen, dass der eigentliche Skandal Schwarz-Blau I war. Jörg Haider hat Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Verächtlichmachung durch antisemitische Sprüche und dergleichen als Themen gesetzt – demokratisch legitimiert wurden sie letztlich durch die Regierungsbeteiligung unter Wolfgang Schüssel, die wiederum mit einer brachial entsolidarisierenden Sprache – soziale Hängematte und dergleichen – den fremdenfeindlichen Diskurs wunderbar ergänzte. Seither gleicht die österreichische Innenpolitik einer Soap-Opera, bei der sich sicherlich viele fragen, ob die eigentlich nebenbei auch noch arbeiten – und das wiederum füttert rechtsextreme Narrative, die ja demokratische Institutionen sowieso ins Lächerliche ziehen wollen, um sie zu delegitimieren. Nur: Diese Personen hat man sich, wie gesagt, selbst ins Boot geholt.


STANDARD: Neben dem Thatcher-Zitat stellen Sie eine Songzeile der Band Ja, Panik an den Beginn Ihres Buchs: “don’t play with the rich kids”. Was tun mit den reichen Kindern? Sie ein bisschen weniger reich machen durch Erbschafts- und Vermögenssteuern?


Köck: Ja, die einzige Minderheit, vor der wir uns tatsächlich fürchten sollten, ist das obere Prozent, sind die Ultrareichen. Trickle-down funktioniert einfach nicht. Da sickert nichts durch nach unten. Trickle-down hat weder Minderheiten geholfen noch für mehr Bildung gesorgt. Menschen in meiner Generation lachen sich in überteuerten Mietwohnungen zu Tode über Immobilienpreise, die nächste Generation kennt Zukunft nur noch aus Geschichten von früher, die Geburtenraten sind im Keller, massive Einsparungen in sämtlichen Bereichen, überlastete Gesundheitssysteme, Burnout allüberall, und die Rich Kids träumen von Marskolonien, wandern in Steueroasen aus oder kaufen ganze soziale Plattformen wie Twitter aus der Portokasse.

“Ich glaube, dass ein Gedanke das tun kann. Dass ein Gedanke etwas aufhalten kann.” Thomas Köck aus: “Chronik der laufenden Entgleisungen” (Suhrkamp 2024)

STANDARD: In diesem Zusammenhang gibt es ein Thema, das Sie im gesellschaftlichen, im politischen Diskurs vermissen – und Sie tippen es in Ihrem Buch auch immer wieder an: das über “Klasse”. Sie schreiben: “We need to talk it through.” Denn: “Wenn ich an Österreich denke, denke ich zuerst und immer, immer wieder an die ständig unter den Tisch gekehrten Klassenfragen in diesem postfeudalen Zwergstaat.” Wo muss für Sie ein “gutes Gespräch über Klasse” beginnen?


Köck: Bei den eigenen Privilegien. Menschen, die keinerlei Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, ihres Körpers und so weiter erlebt haben oder erleben, verstehen nicht, dass es Barrieren gibt in der Gesellschaft. Sie sehen sie theoretisch, aber sie spüren sie nicht. Sie verstehen das nicht. Männer sowieso noch einmal deutlich weniger. Die sollten mal eine Weile enteignet werden oder zumindest gegen gläserne Decken gedrückt werden. Vielleicht verstehen sie dann die Notwendigkeit von Solidarität und demokratischer Beteiligung – wenn sie plötzlich die Gesellschaft aus der anderen Perspektive kennenlernen. Denn wenn ich selbst einmal erlebt habe, was es heißt, entfremdet zu sein, nicht dazuzugehören, auf mich allein gestellt zu sein, mir alles erarbeiten zu müssen oder aufgrund irgendwelcher Merkmale gebiast zu werden, entwickle ich hoffentlich auch eine andere Sensibilität für meine Mitmenschen und ihre individuellen Geschichten. Da beginnt eigentlich jede Form von Solidarität.


STANDARD: Ist “die Mitte” vielleicht zum Ersatzdiskurselement geworden, das die latente oder verdrängte Klassenfrage verdecken und beruhigen soll? Im Wahlkampf war sie begehrt. ÖVP-Chef Karl Nehammer hat sich für “Die starke Mitte” starkgemacht, SPÖ-Chef Andreas Babler warf umgekehrt der Volkspartei vor, “der Totengräber der politischen Mitte” zu sein. Sie hingegen schreiben: “Die Mitte war immer schon das Problem.” Warum?


Köck: Weil sie alle so tun, als wäre die Mitte neutral. Friedrich Merz hatte noch einen Privatjet, als er sich vor einiger Zeit zur gehobenen Mittelschicht gezählt hat. Die Mitte ist, wenn, dann der Querschnitt der Gesellschaft, die ist rechts, rechtsextrem, links, linksliberal, reich, arm, sexistisch, rassistisch, belesen, desinteressiert und so weiter. In Niederösterreich koaliert die selbsternannte “normale” Mitte mit Udo Landbauer, das ist der Typ mit den antisemitischen Liedern. Die Mitte sitzt im Café Landtmann bei einer Sachertorte und denkt, sie sei mittlerweile eine Minderheit in Österreich. Oder sie singt gleich selbst ausländerfeindliche Songs auf Sylt. Oder hält Vorträge unter österreichischer Führung am Wannsee über Massenabschiebungen. Die ökonomische Mitte wird zwischen 60 Prozent bis 200 Prozent des Medianeinkommens definiert, das ist eine enorme Spannweite, selbst da ist sie sich nicht eins. Jemand, der das Doppelte des Medians verdient, und jemand, der weniger als zwei Drittel verdient – das ist alles Mittelschicht. Und alle denken sie, sie hätten zu wenig. Die Mitte gibt es nicht. Es gibt nur einen sehr deutlichen Diskurs, der den einen zuspricht, “normal” zu sein, Mitte, und allen anderen diese Normalität abspricht.


STANDARD: Sie haben in einem Interview den schönen, aber auch irgendwie ernüchternden Satz gesagt, wonach “die Gegenwart eine seltsame, von empathischer Zukunft verlassene Zeit geworden ist”. Keine Hoffnung, nirgends?


Köck: Um empathisch Zukunft denken zu können, brauchen wir Räume, Freiräume, diskriminierungsfreie Räume – nur stehen momentan alle Räume unter dem Druck der Zahlen. Was zu teuer ist – weg, was nicht rentabel ist – weg, was sich nicht verkauft – weg. Ideen sind aber manchmal nicht rentabel, passen nicht in diese unleistbaren Räume, die sich Gesellschaften aber leisten müssen, um voranzukommen – denn sie verschaffen Hoffnung und eine Zukunft jenseits der Zahl. Ich glaube, Demokratien müssen gerade durch etwas durch, das sie sich auch selbst herangezogen haben. Vielleicht brauchen die das, wie ein Fieber, einen Schock, um sich wieder klarzumachen, wer oder was sie sein wollen. Da will ich dran glauben, auch wenn der Kapitalismus gerade die Zukunft verheizt und die herberts aller Länder die Demokratien überrumpeln wollen. Das ist auch eine Reaktion darauf, dass die herberts dieser Erde und all die Sockenpuppen ihre Privilegien zunehmend verlieren. Natürlich bitzeln die dann. Aber umgekehrt schärfen Krisen den Sinn für Zusammenhalt, Solidarität, für Freund:innenschaften, Netzwerke und Privilegien. Und das gibt mir noch ein paar Meilenstiefel Hoffnung.


STANDARD: Und was muss die nächste Regierung aus Ihrer Sicht unbedingt machen?


Köck: Wenn es eine Koalition mit herbert wird, wird die kommende Regierung keine Probleme haben, weil sie einfach die Demokratie ausschalten wird und freie Medien verbieten wird. Wenn es eine Koalition ohne herbert wird, dann sollte man Sammelklagen gegen rechte und rechtsextreme Parteien vorbereiten, denn die zerstören Gespräche und Demokratien und stehlen uns die Zukunft und Künstler:innen die Arbeit, mit ihrem weirden, skurrilen, politischen Personal, wie aus einem dystopischen Fantasy-Roman, das kann sich ja niemand ausdenken – wobei: Die meinen das ja ernst. (Lisa Nimmervoll, 17.10.2024)

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