Sinwars Tod nicht das Ende der Hamas

Auch wenn neben Sinwar in den vergangenen Monaten praktisch die gesamte Spitze der Hamas-Führung von Israel getötet wurde – die Terrororganisation ist so groß und auch führungstechnisch so breit aufgestellt, dass sie deshalb nicht kollabieren wird. Auch ein Jahr Krieg und die dauernden schweren Angriffe der israelischen Armee haben die Organisation nicht gelähmt. Der militärische Arm, die Kassam-Brigaden, sind zwar deutlich geschwächt und können derzeit nicht mehr koordinierte Aktionen durchführen – aber es gibt viele kleinere Einheiten, die weiter aktiv sind.

Ein klares Zeichen für die Überlebensfähigkeit der Hamas ist auch, dass die zivile Verwaltung trotz der weiträumigen Zerstörungen bis zu einem gewissen Grad weiter funktioniert.

Hamas dreigeteilt

Dazu ist die Hamas geografisch dreigeteilt. Es gibt einen relativ selbstständigen Teil im Westjordanland, und ein wesentlicher Teil der politischen Führung befindet sich im Ausland, insbesondere in der Türkei und in Katar.

Auch israelische Fachleute gehen davon aus, dass die Hamas durch Sinwar – ähnlich wie die Hisbollah im Libanon nach der Tötung ihres Chefs Hassan Nasrallah – für eine gewisse Zeit desorientiert und führungslos sein wird, sich dann aber neu organisieren wird. Bei all dem Leid und der Mitverantwortung für die Zehntausenden palästinensischen Toten bleibt die Hamas, auch mangels überzeugender Alternativen, auf absehbare Zeit die Organisation, die in den Augen vieler Palästinenser den Kampf für Freiheit und nationale Selbstbestimmung am überzeugendsten vertritt.

Drahtzieher vom 7. Oktober ist tot

Mehr als ein Jahr nach dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel und dem Beginn des dadurch ausgelösten Gaza-Krieges ist der Organisator des 7. Oktober und Hamas-Führer Jahja Sinwar von der israelischen Armee getötet worden.

Phase der Desorientierung als Chance

Aus israelischer und westlicher Sicht gilt es, diese Phase der Desorientierung nun zu nutzen – für den Westen steht dabei ein Geiseldeal und die Beendigung des Kriegs im Vordergrund. Angehörige der 101 weiter in der Gewalt der Hamas befindlichen Geiseln drängen mit aller Macht auf einen Deal, um die Geiseln freizubekommen. Nur rund die Hälfte von ihnen dürfte nach israelischen Schätzungen noch am Leben sein.

Auch für die israelische rechtspopulistische Regierung ist die Befreiung der Geiseln von zentraler Bedeutung. Sie dürfte dazu aber nur bereit sein, wenn der Preis dafür nun deutlich geringer ist. Jedenfalls – das hat Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Donnerstagabend bereits festgehalten – will die Regierung einem Ende der Kampfhandlungen verbunden mit einem fixen Abzug aus Gaza nicht zustimmen.

Die Hamas hielt aber genau diese Bedingung, die Sinwar erhob, am Freitag aufrecht, als sie in einer kurzen Erklärung dessen Tod bestätigte. Die Chance, mit Sinwars Tötung den von ihm versprochenen „totalen Sieg“ in Gaza zu erklären und damit ein mögliches Kriegsende einzumoderieren, ließ Netanjahu Donnerstagabend bewusst verstreichen.

Exilführung wieder mit mehr Gewicht

Die Dinge sind nun jedenfalls viel mehr im Fluss als in den letzten Monaten. Es ist davon auszugehen, dass die Exilführung der Hamas wieder mehr an Gewicht gewinnen wird. Sie gilt als gemäßigter als Sinwar – und auf sie hat der wichtige Vermittler und Langzeitfinanzier der Terrororganisation, Katar, größeren und direkteren Einfluss. Der frühere Chef des Politbüros der Hamas, Chaled Maschal, etwa hatte sich auch gegen die enge Verbindung zum Iran ausgesprochen. Allerdings kann sich eine neue Hamas-Führung wohl nur graduell kompromissbereiter zeigen, da sie andernfalls intern rasch infrage gestellt werden könnte.

Die USA wiederum haben bereits neue Vermittlungsbemühungen angekündigt. Doch in wenigen Tagen, am 5. November, finden dort die Präsidentschafts- und Kongresswahlen statt. Ob Kamala Harris oder Donald Trump gewinnt, ist wegweisend, gerade auch für den Nahen Osten. Und umgekehrt könnten dramatische Ereignisse in der Krisenregion den Wahlausgang beeinflussen. Ein Geiseldeal in dieser kurzen Zeit ist wohl kaum machbar – und selbst wenn: Netanjahu, der Trump favorisiert, würde einem solchen vor der US-Wahl kaum zustimmen.

Iran als zentrale Variable

Und ein wichtiger Faktor bei der weiteren Entwicklung wird der Iran spielen: Teheran, so vermutet zumindest der britische „Economist“, könnte angesichts des Drucks auf Hamas und Hisbollah Interesse an einer zumindest vorübergehenden Deeskalation haben.

Israel, das einen Gegenschlag auf den iranischen Raketenangriff vom 1. Oktober angekündigt hat, muss entscheiden, ob es mit den jüngsten Militärschlägen gegen Hamas und Hisbollah glaubt, die Abschreckung wiederhergestellt zu haben – auch gegenüber dem Todfeind Iran. Netanjahus erste Aussagen und jene seiner rechtsradikalen Koalitionspartner deuten nicht darauf hin.

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