Der Weg zur “Zuckerlkoalition” wird ein Balanceakt – nicht nur für die ÖVP
Nach dem Gesprächsreigen
Der Kanzler drängte Herbert Kickl aus dem Regierungspoker. Der Verhandlungen mit SPÖ und Neos werden aber nicht einfacher. Vor allem SPÖ-Chef Andreas Babler ist für die Türkisen eine noch unberechenbare Blackbox
Der Kanzler ging diese Woche all in. Karl Nehammer setzte Herbert Kickl metaphorisch vor das Kanzleramt am Wiener Ballhausplatz – und verriegelte die Türen. Denn Nehammer schloss aus, Kickl den “Steigbügelhalter” und ihn zum nächsten Kanzler zu machen. Nehammer sieht im blauen Frontmann eine allumfassende Gefahr für Österreich und die Demokratie. Damit ist nicht nur eine Koalition zwischen FPÖ und ÖVP im Bund vorerst abgesagt, sondern auch Kickls Chance, die nächste Regierung anzuführen. Mit Kickl will schlicht niemand koalieren.
Nehammer setzte damit einen Schritt, den ihm nicht viele zugetraut haben. Denn es ist das eine, in Wahlkonfrontationen auf Distanz zu Kickl zu gehen. Aber das andere, das verbale “Nein” auch einzuhalten. Immerhin nimmt sich Nehammer damit bewusst eine taktische Option, um Preis und Druck für SPÖ und Neos hinsichtlich einer möglichen “Zuckerlkoalition” zu erhöhen. “Das ist kein Spin”, sagt ein türkiser Insider. “Wir halten Kickl wirklich für gefährlich.”
Nur, was ist die Strategie dahinter? Ist es aus Sicht der ÖVP klug, was der Kanzler da macht? Und vor allem: Kommt Nehammer damit innerparteilich durch?
Die Realität ist simpel: Eine Neuauflage der ehemals großen Koalition – eventuell plus Neos – ist Nehammers verbliebene Möglichkeit, Kanzler zu bleiben, auch weil in beiden Lagern die Grünen als Partner ausscheiden dürften. Die Freiheitlichen ätzten bereits: Nehammer gehe es nur um den Posten, nicht ums Volk. Das alles sei ein abgekartetes Spiel, die “Zuckerkoalition” längst ausgemacht. Wiewohl sich Kickl nach seinen Ausritten gegen Nehammer und Bundespräsident Alexander Van der Bellen noch weiter ins Abseits manövrierte. Abgesehen davon gibt es in der ÖVP Zweifel, ob Van der Bellen einen Kanzler Kickl je angelobt hätte. Andreas Bablers erwartbare Absage an die FPÖ am Freitag macht eine mögliche “Zuckerlkoalition” auch symbolisch immer wahrscheinlicher.
“Eat the rich” – ein anderes Mal
Strategisch hat sich für die Volkspartei nichts verändert. Nehammers Move birgt aus türkiser Sicht dennoch eine gefährliche Fallhöhe: wegen Andreas Babler. Denn mit den liberalen Neos, ist man in der ÖVP sicher, werde man sich in potenziellen Koalitionsverhandlungen gerade in Wirtschaftsfragen “bald finden”. Der SPÖ-Chef und dessen rote Linien hingegen seien für die Kanzlerpartei noch eine unberechenbare Blackbox.
Zwei “Dealbreaker” gelte es aus Sicht der ÖVP in den Verhandlungen mit Babler auszumerzen: die Themenbereiche Asyl und Migration sowie Standortpolitik. Da seien laut allen Wahlmotiven “die Quellen der Unzufriedenheit” gewesen, sagt ein Türkiser.
Was eine schärfere Linie im Asylbereich angeht, halten die Türkisen ihren möglichen Partner für “beweglich”. Gerade weil der SPÖ das Thema in der Hauptstadt “um die Ohren fliegt” und im Herbst 2025 eine für Wiens Bürgermeister Michael Ludwig wichtige Wahl ansteht.
Bedeutend zäher, glaubt man in der ÖVP, könnten die Gespräche mit Babler in Sachen Wirtschaft werden. Der SPÖ-Chef inszenierte sich im Wahlkampf als Robin Hood der Entrechteten, als Antipode zu Konzernen, deren Übergewinne beschnitten und Schlupflöcher bei der Grunderwerbssteuer gestopft gehören. Einem “Steuergeschenk” aus türkis-blauen Zeiten, gemeint ist die Senkung der Konzernabgabe, sagte Babler den Kampf an und forderte stattdessen eine Vermögenssteuer.
“Eat the rich ist kein gutes Wirtschaftsprogramm”, tönt es aus der ÖVP. Nicht ohne Grund. Der Volkspartei sitzt die Wirtschaft tendenziell im Nacken, die lieber die unternehmerfreundliche FPÖ mit Türkis in einer Koalition gesehen hätte. Die Industriellenvereinigung sieht in Babler einen koalitionären Antichristen.
Die Zeit drängt
Das heißt: Nehammer muss die SPÖ einhegen – aber auch leben lassen. Da setzt die ÖVP auf den Pragmatismus der roten Sozialpartner und auf jene Teile der SPÖ, die Bablers Kurs skeptisch betrachten. Dazu gehört das rote Urgestein Doris Bures, die Bablers Programm kurz vor der Wahl unter den Verdacht der “Unernsthaftigkeit” stellte. Nun sitzt sie in dessen Sondierungsteam.
Es dürfte aber eine rote Kraftanstrengung nötig sein: Die ÖVP will etwa Unternehmen Investitionen durch Steuererlässe oder Förderungen schmackhaft machen. Das wäre eine 180-Grad-Wende für Babler. Der milliardenteure Klimabonus könnte angesichts der horrenden Staatsschulden ebenso gestrichen werden.
Auch sonst verspürt die SPÖ Erfolgsdruck: Scheitern die Gespräche, drohen Neuwahlen, bei denen die Roten wohl nur noch an der 20-Prozent-Marke kratzen.
Es sind aber nicht nur miserable Wirtschaftsdaten, die Tempo bei den Verhandlungen erfordern. Auch die nächsten politischen Eruptionen geben einen Takt vor. In Vorarlberg wird gerade die vierte schwarz-blaue Landesregierung vorbereitet. Ende November könnten nach der Steiermark-Wahl schnell fünf daraus werden.
Die weitere Niederlage der ÖVP in der Steiermark sei “eingepreist”, hört man aus der Partei. An Nehammers Sessel werde nicht gesägt. Eine spontane Flucht in eine Koalition mit Kickl danach sei nicht absehbar. Nur die Gemeinderatswahlen im ÖVP-Mutterland Niederösterreich Ende Jänner könnten “die Stimmung drehen”, sollte die FPÖ massiv dazugewinnen, glaubt ein Türkiser.
Im selben Monat droht Hans Peter Doskozil noch dazu der Verlust der roten Absoluten im Burgenland. Eine Koalition zwischen SPÖ und FPÖ gilt für beide Seiten als realistische Variante. Das wären einmal mehr Tage ungemütlicher Diskussionen für Babler.
In türkisen Gefilden lautet der Wunsch daher: eine Koalition noch vor Weihnachten. Nicht zuletzt, um der blauen Erzählung vorzubeugen, wonach Nehammer und Co nicht nur den Wahlsieger “ausgeschlossen” hätten, sondern jetzt auch ewig nichts zustande brächten. (Jan Michael Marchart, 18.10.2024)
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