Blaue Spuren im roten Wien: Was die FPÖ in Favoriten beflügelt – und in Ottakring hemmt
“Bei mir sind Sie richtig: Ich bin die Frau Kickl“: Aus ihrer politischen Vorliebe macht die 80-jährige Pensionistin kein Hehl. Die alten Sozialisten, die seien noch “Ehrenmänner” gewesen, aber heute gebe es nur noch eine Wahl. Warum? Zum “Dreckhaufen” sei ihr Heimatbezirk verkommen, sagt sie: “Raus mit dem arbeitsscheuen, messerstechenden Volk!”
Wer vor dem Olof-Palme-Hof, einem aus den Siebzigerjahren stammenden Gemeindebau monströser Dimensionen, und Passanten abpasst, hört Wutentladungen in allen Abstufungen. Dass die Menschen ihr Kreuz bei der FPÖ nur verstohlen machen, ist zumindest hier, in der Per-Albin-Hansson-Siedlung in Favoriten, vorbei. Während sich Österreicher abrackerten, bekämen Ausländer das Geld nachgeworfen, lautet die Konstante der Klagen. Mit all den “Schmarotzern” gehöre auch gleich der Kickl-verhindernde Bundespräsident abserviert, fordert eine Frau und trotzt der Mahnung ihrer Begleiterin: “Gib dich nicht mit denen ab! Das ist doch ein linkes Blattl.”
Die Stimmungslage schlug sich bei der Nationalratswahl am 29. September nieder. Obwohl die Blauen in Wien insgesamt unter ihrem österreichweiten Niveau liegen, waren sie nach ihrem Ibiza-Skandal-Einbruch von 2019 in bestimmten Stadtvierteln wieder kräftig auf dem Vormarsch. Im zehnten und mit 220.000 Einwohnern größten Bezirk legte die FPÖ um mehr als zehn Prozentpunkte auf 27,5 Prozent zu, während die traditionell dominante SPÖ 3,55 Prozentpunkte einbüßte. In den klassischen Arbeiterhochburgen hat das Ausländerthema wieder einmal gezündet.
Oder doch nicht? Ein paar Kilometer weiter nordwestlich entlang des Gürtels, der vielbefahrenen Hauptverkehrsader, mischen sich die Kräfte anders. Auch Ottakring blickt auf eine proletarische Geschichte zurück, auch hier stammt etwa die Hälfte der Bevölkerung aus dem Ausland (siehe Kästen). Doch die FPÖ bleibt im 16. Bezirk um rund zehn Prozent hinter ihrem Ergebnis aus Favoriten zurück.
Woran liegt das? Warum lässt sich die FPÖ im Westen Wiens besser in Schach halten?
Eine simple Erklärung besticht nur auf den ersten Blick. Schlagzeilen über Messerattacken und Jugendbanden haben Favoriten in den Geruch der No-go-Area gebracht. Bei genauerem Hinsehen aber zeigt sich: Der zehnte “Hieb”, wie es auf Altwienerisch heißt, steht nicht allein, sondern stellvertretend für die großen Flächenbezirke. In Simmering ist die FPÖ ohne große Horrorgeschichten eine Macht, in Floridsdorf sogar die stärkste Kraft.
Auch der Hinweis auf die soziale Lage überzeugt nicht. Favoriten ist zwar der Bezirk mit dem drittniedrigsten Pro-Kopf-Einkommen, doch gleich davor rangiert Ottakring. Wieder sagt der weiterreichende Vergleich viel aus: In der Donaustadt verdienen die Menschen überdurchschnittlich, strömen aber ebenso massiv zur FPÖ. Die finanzielle Lage dürfte also nicht das entscheidende Kriterium sein.
Bobo meets Orient
Mehr Aufschluss gibt ein Besuch des Grätzels um die Brunnengasse, des inoffiziellen Zentrums Ottakrings. Wer schon vor 25 Jahren auf die Stopp-der-Überfremdung-Plakate der FPÖ angesprungen ist, mag die dortige Szenerie als real gewordenen Albtraum auffassen. Der täglich geöffnete Markt ist fest in türkischer, syrischer und anderer nichtösterreichischer Hand. Wie eine Enklave wirkt ein Standl, vor dem sich Alteingesessene an Sturm und Pferdeleberkässemmeln erfreuen.
Doch spätestens am Ende der Gasse, beim Yppenplatz, gerät das Bild von der Parallelgesellschaft ins Wanken. Unter die Bäckereien, Juweliere und Kleidungshändler südöstlicher Prägung mischen sich trendige Cafés, die Kreativität bei der Frühstücksbowl ebenso ausleben wie bei der Latte-Mischung. “Bobo trifft auf Orient” bewirbt der Onlinereiseführer der Stadt das Gebiet – nicht zu Unrecht.
Dieser Mix ergibt sich unter anderem aus der günstigen Lage. Weil sowohl die Uni als auch der Westbahnhof, einst Haupteinfallstor nach Wien, nahe sind, siedelten sich viele Studierende in den eher bürgerlichen Innenbezirken sechs bis neun an. Als die Mieten dort ins Unerschwingliche stiegen, zog es die jungen Menschen in die Migrantenviertel weiter westlich. Die in den Neunzigern eingeleitete Gürtelsanierung, die viele Lokale in die alten Stadtbahnbögen unter der U6-Trasse brachte, peppte die Gegend gehörig auf.
Statistisch belegbare Folge: Ottakring beherbergt einen deutlich größeren Anteil an Uni-Absolventen als Favoriten. Daraus resultiert eine gewisse Resilienz gegen die FPÖ, die bei Menschen mit Pflichtschul- und Lehrabschluss überproportional punktet, aber bei Akademikern nur die fünftstärkste Kraft ist. Kein Wunder: Eine Partei, die sich an den Eliten reibt, wird bei Gruppen, die zu ebendiesen zählen, kaum die erste Wahl werden.
Allein mit dem Bildungsstatus ließen sich die zehn Prozent Unterschied beim FPÖ-Ergebnis aber nie und nimmer erklären, sagt Meinungsforscher Christoph Hofinger vom Foresight-Institut. Er vermutet, dass die Ottakringer Diversität auf die kollektive Stimmung abfärbt. Aus Wahlanalysen wisse man, dass ein pessimistischer Blick in die Zukunft der Treiber für FPÖ-Erfolge sei. Strömten in einen Bezirk auch junge Aufsteiger, verliere das Gefühl des Abgehängtseins an Nährboden: “In Ottakring haben wohl weniger Leute den Eindruck, dass nur solche zu ihnen ziehen, die es sich nicht aussuchen können.”
Die folgende Szene wirkt vor diesem Hintergrund erfunden, ist es aber nicht. Beim Rundgang im weniger hippen Teil Ottakrings, wo sich über hundert Jahre alte Zinshäuser schachbrettartig an neuere Wohnblocks reihen, erfüllt gleich der erste angesprochene Bürger die Erwartung. Im Vergleich zu früher sei der Bezirk kaum wiederzuerkennen, doch den Zuwanderern verdanke er, dass er ums Eck seine Hose oder Schuhe reparieren lassen könne. Im Großen und Ganzen funktioniere das Zusammenleben gut, bilanziert der pensionierte Bankangestellte – und fügt ungefragterweise an: “Viel besser als in Favoriten.”
Natürlich kann eine beliebige Straßenumfrage wie diese niemals repräsentativ sein. Auch in Ottakring schimpfen Menschen über Ausländer. Doch versöhnliche Töne – so offenbart es zumindest der Lokalaugenschein des STANDARD – sind präsenter als vor der Per-Albin-Hansson-Siedlung in Favoriten.
Das zeigt sich auch in einem der Nachkriegsgemeindebauten Ottakrings. “Free Palestine”, “Turk”, “SRB”, “Albanien bis zum Tod” – schon die Graffitis an einer der Türen deuten auf nationale Vielfalt hin, und gehe es nach mancher Bewohnerin, dann gelte das ebenso für den Mist und den Lärm im Komplex. Dass Dosen und Papierln einfach auf den Boden geschmissen würden, habe es früher nicht gegeben, bekrittelt eine Frau. Wie bestellt fliegt ein paar Augenblicke später eine Plastikflasche aus einem Fenster.
Aber auch hier ertönen Relativierungen von autochthoner Seite. Tatsächlich sei der Respekt für öffentliches Eigentum gesunken, doch das dürfe man nicht pauschal den Zuwanderern zuschieben, sagt eine 28-Jährige, die im Bau aufgewachsen, aber mittlerweile weggezogen ist. Obwohl Ottakring heute “eine andere Welt” sei, verspüre sie bei Besuchen immer noch ein “Heimatgefühl”. Wieder kommt Favoriten, Stätte ihres Arbeitsplatzes, als Gegenbeispiel zur Sprache: “Hier ist es ein Miteinander, dort eher ein Nebeneinander.”
Toleranz und Zusammenprall
Generell neigten Wohngebiete aus der sogenannten Gründerzeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie sie Ottakring prägen, zu mehr Toleranz, sagt der Soziologe Christoph Reinprecht. In diesen Zonen sei die Heterogenität seit jeher groß: “Die Menschen haben gelernt, damit umzugehen.”
Auch Innerfavoriten besteht aus Gründerzeitbauten, dort genießt die FPÖ laut der Detailergebnisse der Wahl aber keine Vormachtstellung. Blau dominiert sind hingegen neuere, in Richtung Stadtrand ausufernde Siedlungen. Auf das Per-Albin-Hansson-Areal etwa seien einst Menschen gezogen, die dies als “Aufstieg in ein Luxussegment” empfunden hätten, analysiert Reinprecht. Als die Stadt schließlich vor 18 Jahren alle Gemeindebauten auch für Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft öffnete, sei eine gealterte Bevölkerung auf frisch zugewanderte Menschen getroffen: Dieser Zusammenprall habe das Gefühl der Bedrohung geweckt.
Doch so mancher Blauwähler lokalisiert das Problem nicht in unmittelbarer Nachbarschaft. An den Migrantenfamilien vor Ort habe er wenig auszusetzen, sagt ein Bewohner des aus kleineren Einheiten bestehenden Westteils der Hansson-Siedlung, wo die FPÖ je nach Sprengel 38 bis 40 Prozent erreichte – überhaupt sei der große Teil der Zuwanderer “voll okay”. Doch der meist sehr junge Rest sorge dafür, dass man sich auf gewisse Plätze weiter stadteinwärts kaum noch trauen könne. “Drogensüchtige, Messerstecher, Raufereien”, ergänzt seine Partnerin: “Wenn man an seinem Leben hängt, geht man dort nicht hin.”
Das ist, wie sich bei einem Fußmarsch durch den Bezirk feststellen lässt, zweifellos übertrieben, aber auch nicht aus der Luft gegriffen. Auf dem Keplerplatz, unweit des lange Zeit nicht minder übel beleumundeten Reumannplatzes, kämpft die Polizei schon seit Jahren gegen organisierten, von Gewalt begleiteten Drogenhandel. Als Akteure identifizierten die Ermittler erst algerische, dann syrische, afghanische und iranische Gruppen.
Allerdings steht Favoriten mit diesem Problem nicht allein. An einem Juliabend dieses Jahres durchbrachen Schüsse das vermeintliche Bobo-Idyll am Ottakringer Yppenplatz. Die Täter flüchteten, zwei Schwerverletzte blieben zurück. Auslöser dürfte ein Streit im Drogenmilieu gewesen sein.
Es blieb nicht der einzige außergewöhnliche Gewaltvorfall im Grätzel im vergangenen Sommer. Warum sich Ottakring anders als Favoriten dennoch nicht in den Ruf des Problembezirks eingehandelt hat? Das könne sie schwer beurteilen, sagt Bezirksvorsteherin Stefanie Lamp von der SPÖ. Klar sei aber, dass sie nicht zur Tagesordnung übergangen sei: “Wir müssen den Platz verteidigen.”
Das Um und Auf sei, in alle Richtungen Kontakte zu halten, um diese im Krisenfall anzapfen zu können: “Du darfst nicht glauben, über jeden Quadratmeter im Bezirk Bescheid zu wissen.” Drei Stunden lang habe sie nach dem Vorfall mit allen erdenklichen Akteuren inklusive Polizei und Sozialarbeiter auf dem Yppenplatz debattiert. Die erste Maßnahme war eine hellere Beleuchtung, weitere müssten folgen, sagt Lamp: “So wie im vergangenen Sommer darf es nie wieder sein.”
Dealer und Taschlzieher
Untätig blieben natürlich auch die Favoritner nicht. Von mobiler Videoüberwachung bis zum Stutzen der als Drogenbunker dienenden Sträucher reichten die Eingriffe auf dem zur Schutzzone erklärten Keplerplatz. Gedealt wird im von Jugendgruppen bevölkerten Beserlpark vor der Kirche augenscheinlich immer noch. Laut Polizei ist die Zahl schwerer Gewaltdelikte aber markant gesunken.
Von der bezirksweiten Kriminalitätsrate lässt sich das nicht behaupten. Die Summe der von der Polizei angezeigten Straftaten nahm in Favoriten im Vorjahr um 15 Prozent zu, in Ottakring “nur” um sieben Prozent; allerdings stieg im zehnten anders als im 16. Bezirk auch die Aufklärungsrate in ähnlichem Ausmaß. Im wienweiten Vergleich lag Favoriten 2022 im oberen, Ottakring im unteren Mittelfeld.
Dabei dürfe man ein Faktum aber nicht übersehen, merkt Bezirksvorsteher Marcus Franz an: In Favoriten liegt der Hauptbahnhof. Jedes dort gezogene Geldtascherl treibt die Statistik empor – was nichts mit dem eigentlichen Leben im Bezirk zu tun habe.
Der Sozialdemokrat relativiert auch das Wahlergebnis. Dass die FPÖ nach dem Ibiza-Tief wieder stark zulegen werde, sei klar gewesen. Doch im Vergleich zu den 29 Prozent bei der vorletzten Nationalratswahl habe die blaue Konkurrenz abgebaut – und das, obwohl die SPÖ schwach mobilisiert und im Bezirk den Boulevard als Gegner gehabt habe: Da sei so getan worden, als wäre Favoriten Mordor, das Schattenreich aus Herr der Ringe.
Nichts wirkt verfehlter im an den Hauptbahnhof angrenzenden Sonnwendviertel, wo sich Franz mit dem STANDARD trifft. Entlang eines riesigen, wenn auch noch spärlich bewachsenen Parks reihen sich helle, schick anmutende Wohnblocks mit großzügigen Balkonen – auch das ist Favoriten. Hier matcht sich die SPÖ eher mit den Grünen und den Neos. “In den urbanen Zukunftsgebieten”, sagt der Bezirkschef, “ist die FPÖ abgemeldet.”
Warum das stadtauswärts so ganz anders ist? Dort greife Angst vor dem Unbekannten um sich, sagt Franz. In der Hansson-Siedlung, Stätte seiner eigenen Kindheit, seien heute mehr als 60 Prozent der Bewohner über 60 Jahre alt, “und das sind nicht die Einkommensstärksten”. Der rasante Wandel der Gesellschaft sei für viele kaum fassbar, dank FPÖ werde alles auf die Ausländer projiziert. Aus dieser Perspektive sähen Jugendliche im Park rasch wie eine Bedrohung aus – “und wenn sie nur auf der Bank sitzen”. (Gerald John, 25.10.2024)
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