Kritischer Moment für Opposition
Der Druck der Regierungspartei Georgischer Traum auf Zivilgesellschaft und Opposition hatte sich zuletzt stark erhöht – Zeichen dafür war die Verabschiedung von Gesetzen, wie es sie ähnlich in Russland gibt. So etwa das „Agentengesetz“, das NGOs und Medien gängelt, und das LGBTQ-Gesetz, das Rechte von sexuellen Minderheiten einschränkt. Das rief auch die EU auf den Plan – der seit Ende 2023 laufende Beitrittsprozess wurde auf Eis gelegt.
Zugleich schlug der Opposition heftige Rhetorik entgegen, geäußert vom Parteigründer und Ehrenvorsitzenden des Georgischen Traums, Bidsina Iwanischwili. Er hat zwar keine offizielle Rolle in der Partei, gibt aber die Linie vor. Er drohte Opposition und NGOs im Falle einer Zweidrittelmehrheit für seine Partei offen mit einem Verbot und sprach von einem „Nürnberger Prozess“, der gegen die „kollektive Opposition“ angestrengt werden solle.
Derartige Töne sorgten selbst bei Kritikern der Regierung für Überraschung: „Ich habe noch nie eine Wahlkampagne gesehen, in der ein politischer Führer den Wählern offen ein totalitäres Regime verspricht. Selbst in totalitären Staaten geschieht so etwas nicht“, sagt Wano Tschchikwadse (Vano Chkhikvadze) von der Civil Society Foundation im ORF.at-Interview. Die Stiftung mit Sitz in Tiflis setzt sich für die Stärkung von demokratischen Prozessen ein.
„Frage von Leben und Tod als politische Macht“
Autoritäre Rhetorik und entsprechende Gesetze sind kein Zufall: Für den Georgischen Traum sei es „eine Frage von Leben und Tod als politische Macht“, sagt Tschchikwadse. Jene Partei, die ehemals den Weg in Richtung EU forciert hat und sich nun – aus welchen Gründen auch immer – verstärkt Russland zuwendet, sei „bereit, alles zu opfern, um an der Macht zu bleiben“, meint Tschchikwadse.
Und die Gegner? Sie galten stets als hoffnungslos zerklüftet. Es habe bei vergangenen Wahlen viele Parteien gegeben, die an der Hürde für einen Einzug ins Parlament gescheitert seien, sagt Stephan Malerius, Leiter des Georgien-Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tiflis, gegenüber ORF.at. „Um die Zersplitterung zu strukturieren, haben sich die Parteien zu vier Blöcken zusammengeschlossen. Für die Wähler soll es damit einfacher sein, sich für eine Alternative zu entscheiden“, sagt Malerius.
Krieg oder Frieden? EU oder Russland?
Sowohl die Regierungspartei als auch die vier oppositionellen Blöcke stellen die Wahl als Referendum dar. „Der Georgische Traum sagt, das georgische Volk entscheidet am Wahltag zwischen Krieg und Frieden“, so Tschchikwadse. „Sie versuchen, eine Bedrohung durch Krieg heraufzubeschwören.“ Auf Wahlplakaten sind zerbombte Häuser in der Ukraine zu sehen, es sei also ein Spiel mit der Angst – und eine bewusste Polarisierung.
Bei der Opposition geht es indes um etwas anderes: Da werde versucht, „diese Wahl als eine Entscheidung zwischen Europa und Russland darzustellen“, sagt Tschchikwadse gegenüber ORF.at. Eine Pro-EU-Ausrichtung gilt als mehrheitsfähig: „Wenn wir uns Umfragen ansehen, sehen wir, dass die Unterstützung für den EU-Beitritt bei 80 Prozent liegt.“
EU-Beitritt „mit Würde“
In diesem Fahrwasser schwimmt aber auch die Regierungspartei mit – denn sie vertritt rhetorisch nach außen hin noch immer den selbst eingeleiteten EU-Beitrittskurs. Zugleich untergräbt sie diesen aber mit Gesetzen, die den eingeschlagenen Weg gefährden. Die Regierenden sprechen von „einem Beitritt mit Würde“, bei dem man sich nicht verbiegen müsse, so Experte Malerius im Gespräch mit ORF.at.
Protest könnte zentrales Wahlmotiv sein
Doch insgesamt weisen – kaum belastbare – Umfragen eine Mehrheit für die Opposition aus. Starkes Wahlmotiv könnte zwar die EU-Haltung sein, viel mehr aber noch Protest: „Die Opposition wird meist nicht wegen ihrer Programme unterstützt, sondern weil viele den Georgischen Traum von der Macht entfernen wollen“, so Tschchikwadse gegenüber ORF.at. Alle Oppositionsparteien haben eine Koalition ausgeschlossen.
Klima der Angst
Doch die Regierungspartei – in den Umfragen zuletzt auf etwa 35 Prozent und damit nicht mehrheitsfähig – verfügt über einige Asse im Ärmel. „Der Georgische Traum setzt stark auf administrative Ressourcen, der Druck auf Beamte, für den Georgischen Traum zu stimmen, hat zugenommen“, sagt Tschchikwadse. Das betreffe etwa Lehrende, Polizisten und Soldaten. Im Land ist jede dritte berufstätige Person im öffentlichen Sektor beschäftigt.
„Die Regierungspartei verbreitet, dass es keine geheime Wahl ist und dass man jene identifizieren kann, die nicht für sie gestimmt haben“, so Tschchikwadse. „Vielleicht weniger in Tiflis oder in großen Städten, aber in den Dörfern haben die Leute Angst, dass sie erkannt und bestraft werden, wenn sie nicht für den Georgischen Traum stimmen“, sagt er. Stimmenkauf könnte eine Rolle spielen, auch ist Druck auf Wahlkommissionen zu erwarten. Erst zuletzt bekräftigte der Georgische Traum die Hoffnung auf einen hohen Sieg.
„Willkürliche Zahlen“ möglich
„Doch sollte der Georgische Traum verlieren, ist es kaum vorstellbar, dass das von ihnen auch anerkannt wird“, sagt Experte Malerius. Auch nicht ausgeschlossen sei ein Vorgehen „wie in Belarus“, wenn etwa „willkürliche Zahlen“ zur Wahl genannt werden. Dementsprechend wichtig seien die Wahlbeobachter – etwa der OSZE. Die Opposition sei zwar eingeschworen im Vorhaben, die Regierung abzulösen, dennoch werde ein Machtwechsel schwierig.
Dazu sagt Stefan Meister, Leiter des Zentrums für Ordnung und Governance in Osteuropa, Russland und Zentralasien der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), gegenüber ORF.at: „Wenn die Opposition gewählt wird, fängt die Arbeit erst an. Dann braucht es eine Änderung der Strukturen.“ Aber die derzeitige Regierung wolle einen autoritären Kurs fahren – und sei bereit zu Gewalt.
Neue Proteste „sehr wahrscheinlich“
Malerius hält neue Proteste für sehr wahrscheinlich: „Je nachdem, wie sich die Regierungspartei zu dem Ergebnis verhalten wird, wird die Reaktion von Zivilgesellschaft und Opposition ausfallen.“ Sollten Zahlen erfunden werden, „dann sind die Georgier (wie im Frühjahr, Anm.) sofort auf der Straße“ und es könne zu Unruhen und Konfrontationen kommen. Die beiden Fachleute sind sich einig: Dann werde die EU gefragt sein.
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