Verkehrsdelikte zwischen Fahrlässigkeit und Mordversuch
Gerichtsreportage
Drei Unfälle, drei unterschiedliche angeklagte Delikte: Innerhalb weniger Tage zeigt sich in Wien, welche Bandbreite es bei den Folgen von Verkehrsdelikten gibt
Wien – Mit dem dritten und letzten Verhandlungstag im Mordprozess gegen den 35-jährigen Herrn Z. endet gleichzeitig auch eine Serie von Prozessen, die sich um Fehlverhalten im Straßenverkehr gedreht haben. Innerhalb von sechs Tagen beschäftigte sich das Landesgericht für Strafsachen Wien mit drei aufsehenerregenden Unfalldelikten. Das Interessante: Die Staatsanwaltschaft Wien hat trotz gewisser Gemeinsamkeiten völlig unterschiedliche Delikte angeklagt.
Den Beginn machte am 23. Oktober eine 31-jährige Angestellte. Die Frau hatte bei einer Firmenfeier Alkohol getrunken, sich aber noch fahrtüchtig gefühlt, als sie gegen 15 Uhr die U-Bahn ignorierte und ihr Auto für die Heimfahrt startete, mit letalen Folgen für einen 40-jährigen Familienvater. Denn die Angeklagte fuhr in Wien-Floridsdorf mit 70 km/h und 1,7 Promille auf eine Kolonne auf. Alle vier Insassen des hintersten Fahrzeugs wurden verletzt, der 40-Jährige verstarb an einem Schädel-Hirn-Trauma. Die strafrechtliche Konsequenz für die Unbescholtene: eine rechtskräftige Verurteilung wegen grob fahrlässiger Tötung mit einer Strafe von zehn Monaten Haft, davon zwei unbedingt.
Wahnsinnsfahrt im Stoßverkehr
Zwei Tage später musste sich neuerlich ein Unbescholtener vor Gericht verantworten. Dieser 40-Jährige war mit 1,4 Promille zwar etwas weniger stark alkoholisiert, hatte dafür aber auch Cannabis konsumiert. Kurz vor 18 Uhr donnerte er zwischen Staatsoper und Parlament mit bis zu 100 km/h durch den dichten Stoßverkehr. Beim Denkmal der Republik verlor er die Kontrolle und geriet auf den Fußgängerbereich, sodass zehn bis 15 Passanten ausweichen mussten.
Das stoppte ihn nicht: Er beschleunigte erneut und rammte zunächst den Frontbereich eines Autos, ehe er kurz darauf einen Radfahrer überfuhr. In diesem Fall begann die Anklagebehörde zunächst ein Ermittlungsverfahren wegen Mordversuchs, da der verletzte Radfahrer aussagte, der Autolenker habe ihn vor dem Crash direkt angesehen und dabei gelacht. Schlussendlich wurde der 40-Jährige dann aber doch nur wegen absichtlich schwerer Körperverletzung angeklagt und verurteilt. In seinem Fall beträgt die Strafe 24 Monate Haft, sechs davon unbedingt.
Mehrfach im In- und Ausland vorbestraft
Herr Z., der aktuelle dritte Fall, kann dagegen nicht mit einem ordentlichen Lebenswandel punkten. Im Gegenteil: Zwischen 2011 und 2020 sammelte der Angeklagte in Österreich vier Vorstrafen, die jüngste stammt aus der Tschechischen Republik. Der 35-Jährige hatte sich in Brünn eine zwanzigminütige Verfolgungsjagd mit der Polizei geliefert und dabei mehrere exekutive und zivile Fahrzeuge touchiert.
Zwar alkoholtechnisch nüchtern, aber nach dem Konsum eines Joints, ohne Führerschein und mit einem nicht zugelassenen PS-starken Jaguar war er am 8. Dezember auf dem nächtlichen Mariahilfer Gürtel unterwegs. Eine Polizeistreife stoppte den Angeklagten, der kurz anhielt – und dann Gas gab. Rund fünf Kilometer lang raste er mit 70 bis 100 km/h auf der Verkehrsader in Richtung Süden.
Auf dem Gaudenzdorfer Gürtel, Ecke Eichenstraße, errichtete die Exekutive eine Sperre, ein kurzer Stau entstand. Was dann folgte, ist aus Sicht der Staatsanwaltschaft ein Mordversuch: Z. sei mit Vollgas auf zwei Polizisten losgefahren, sodass die zur Seite springen mussten, ist in der Anklageschrift zu lesen. Das stimme nicht, meinen der Angeklagte und seine Verteidiger Rudolf Mayer und Lukas Hruby. Z. habe stark gebremst, eine Lücke zwischen den anderen stehenden Fahrzeugen gesehen und die Polizisten bemerkt, als er weitergefahren sei. Es habe nie eine Gefahr für die Beamten bestanden, lautet die Verteidigungsstrategie.
Radfahrer touchiert, in Gegenverkehr gefahren
Dass er auf seiner weiteren Flucht einen Radfahrer beim Matzleinsdorfer Platz touchierte und auf dem Landstraßer Gürtel schließlich in den Gegenverkehr kam und mit dem Fahrzeug einer ungarischen Familie kollidierte, gibt der Angeklagte zu und bekennt sich daher der absichtlichen schweren Körperverletzung für schuldig. Aber ein Mörder will er nicht sein.
Spuren von der Situation mit den Polizisten gibt es nicht, der Unfallsachverständige muss das Geschehen aufgrund divergierender Zeugenaussagen rekonstruieren. Und kommt zu dem Schluss: Am wahrscheinlichsten sei, dass Z. die Polizisten mit einer Geschwindigkeit zwischen 20 und 30 km/h passierte – eine Kollision wäre mit großer Wahrscheinlichkeit nicht tödlich gewesen.
Auch der Zufall spielt eine Rolle
Wie kommt es nun, dass bei drei Unfällen drei verschiedene Delikte angeklagt werden? Die Gründe sind vielfältig – und zum Teil zufällig. Grundsätzlich müssen Staatsanwältinnen und -anwälte den Einzelfall prüfen und nur jenes Delikt anklagen, bei dem sie von einer mehr als 50-prozentigen Verurteilungswahrscheinlichkeit ausgehen. Wie man diese bestimmt, ist individuell verschieden.
Gerade bei Mordanklagen kommt die Unberechenbarkeit der Laienrichterinnen und -richter dazu. Das Risiko des Scheiterns ist höher, und allzu viele abgeschmetterte Anklagen machen sich im Lebenslauf nicht gut. Dazu kommt, dass bisher in Österreich relativ wenige Mordanklagen nach Unfällen durch alle Instanzen gehalten haben – in den meisten Fällen ging es um gescheiterte Selbstmörder, die vorsätzlich in den Gegenverkehr gerast sind.
Im Fall Z. schließen sich die Geschworenen mit 7:1 Stimmen dem Staatsanwalt an und erkennen auf Mordversuch. Die von der Vorsitzenden Nicole Baczak verkündete Strafe: 15 Jahre Haft. Der Angeklagte bricht in Tränen aus. “Das Ganze hat nicht einmal sieben Minuten gedauert, und Sie haben sechs Verbrechen und zwei Vergehen begangen!”, begründet die Vorsitzende die Strafhöhe. Aus general- und spezialpräventiven Gründen sei diese juristische Konsequenz also nötig.
Mutter des Angeklagten wird des Saales verwiesen
Die im Saal anwesende Mutter des Serben sieht das gänzlich anders: “Das ist unmenschlich, Frau Richterin! Mein Sohn hat niemanden umgebracht!”, schreit sie aufgebracht. “Haben Sie kein Herz?”, will sie von den Berufsrichtern und den Geschworenen wissen, ehe Baczak sie des Saales verweist. “15 Jahre für nix!”, empört sich die Frau weiter, während sie geht, und ortet ausländerfeindliche Motive für die Entscheidung.
Diese ist nicht rechtskräftig: Mayer und Hruby erbitten sich drei Tage Bedenkzeit, auch der Vertreter der Staatsanwaltschaft gibt keine Erklärung ab. (Michael Möseneder, 29.10.2024)
>read more at © Der Standard
Views: 0