Bildungsexpertin Christiane Spiel: “Wir bräuchten eine Gesamtschule”
Schulwege
Gymnasium oder Mittelschule? In einem idealen Bildungssystem könnten Eltern diese Frage entspannter angehen, meint Christiane Spiel
Kinder werden in Österreich früh auf unterschiedliche Schulformen aufgeteilt. Bildungsexpertin Christiane Spiel über den schlechten Ruf der Mittelschulen und mangelnde Chancengerechtigkeit.
STANDARD: Viele Eltern sind sehr bemüht, ihre Kinder in Gymnasien zu bringen. Zu Recht?
Spiel: Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Wenn alles ideal liefe, müsste sie verneint werden. Aber das ist leider nicht der Fall, insbesondere nicht in Wien, aber auch nicht in anderen Großstädten. Daher muss man für Wien leider sagen: Die Eltern bemühen sich zu Recht, ihre Kinder ins Gymnasium zu bringen. Aber es sollte nicht vergessen werden, dass manche Kinder in der AHS überfordert sind. Das führt zu Misserfolgen, Frustration und Demotivation zu lernen.
STANDARD: Laut Ministerium ist es Ziel der Mittelschulen, “im Sinne der Chancengerechtigkeit” individuell zu fördern. Trotzdem genießen Mittelschulen keinen guten Ruf.
Spiel: Das ist vor allem ein Thema der großen Städte. Der Anteil an Migrantinnen und Migranten ist sehr unterschiedlich in Abhängigkeit von der Wohngegend. Insbesondere durch den Nachzug leben Migranten aus derselben Kultur und Sprache in bestimmten Stadtteilen zusammen. Das führt dazu, dass es für sie nicht notwendig ist, Deutsch zu lernen, was für die Kinder nachteilig ist und oft zu Schwierigkeiten in der Schule führt. Damit haben diese Kinder viel geringere Chancen, auf ein Gymnasium zu kommen, auch wenn sie begabt sind.
STANDARD: Wie gut sind die Mittelschulen?
Spiel: Es gibt weder die durchschnittliche Volksschule noch die durchschnittliche AHS oder Mittelschule. In allen Schultypen gibt es große Unterschiede. Diese haben mit dem Lehrkörper, der Schulleitung, den Schülerinnen und Schülern und den Erziehungsberechtigten zu tun. Sie alle tragen zum Schulklima, zur Qualitätssicherung bei. Zusätzlich spielen natürlich auch die Rahmenbedingungen wie die Größe der Klassen, das Gebäude und die Ressourcen eine wichtige Rolle. Aber Achtung: Viele Ressourcen führen nicht automatisch zu hoher Güte!
STANDARD: Wie sinnvoll ist die Benotung an Mittelschulen nach unterschiedlichen Leistungsniveaus?
Spiel: Die Vorgaben für die Benotungssysteme sind sehr formal. Laut Bildungsministerium entspricht etwa die Bewertung “Genügend” im Leistungsniveau “Standard AHS” der Beurteilung mit “Gut” im Leistungsniveau “Standard”. Generell ist die Benotung schon nicht einfach, denn es geht ja darum, unterschiedliche Leistungen in verschiedenen inhaltlichen Bereichen gegeneinander abzuwiegen. Noch schwieriger erscheint es mir, die Benotungssysteme ineinander überzuführen.
STANDARD: Es gibt eine große Hürde, von einer Mittelschule später in ein Gymnasium zu wechseln. Wie könnte das leichter werden?
Spiel: Bei der derzeitigen Situation in Wien erscheint es mir extrem schwierig. Lehrpersonen, die bis zu 30 Kinder in der Klasse haben, von denen die meisten nur geringe Deutschkenntnisse haben, können das alleine kaum schaffen. Idealerweise würden Klassen geteilt, es gäbe Mentoring, differenzierte Sprachförderung durch dafür speziell ausgebildete Personen und vieles mehr. Aber derzeit schaut es nicht danach aus, dass dies schnell realisiert werden kann. Auf jeden Fall bräuchten wir intensive Deutschförderung bereits im Kindergarten. Denn dann würden viele Probleme erst gar nicht entstehen.
STANDARD: Wie kann das Dilemma der frühen Teilung aufgelöst werden?
Spiel: Wir bräuchten, wie in den meisten anderen Ländern, eine Gesamtschule, die eine sehr hohe Qualität hat und eine innere Differenzierung, und zwar nicht nach Statusvariablen, sondern nach Interessen und Begabungen der Kinder; zumindest für die ersten sechs Jahre. Bei den derzeitigen politischen Verhältnissen erscheint mir eine Umsetzung jedoch sehr unrealistisch.
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