Wer hat Angst vor der Mittelschule?
Derzeit noch keine AHS-Reife. Das Urteil der Volksschullehrerin wiegt schwer. Schon seit Max im September in die vierte Klasse gekommen ist, steigt der Druck enorm. Im Zeugnis der dritten Volksschulklasse wurden Deutsch und Mathematik nur mit einem “Befriedigend” benotet – das darf in diesem Semester auf keinen Fall mehr passieren. “Sonst kannst du nicht ins Gymnasium gehen”, wiederholen die Eltern mantraartig, wenn es wieder einmal zu Lernverweigerung, Streit und Wutausbrüchen kommt.
Wer ein Kind in der vierten Klasse Volksschule hat, sollte sich spätestens jetzt überlegen, in welcher Schulform es weitergehen soll. Doch Eltern, zumindest in Wien und anderen Ballungszentren, haben das Gefühl, dass es um viel mehr als um den nächsten Schritt auf dem Bildungsweg geht: eine Richtungsentscheidung, bei der die gesamte Zukunft des Kindes einzementiert wird. AHS oder Mittelschule (MS) – das scheint eine so tiefgreifende Entscheidung zu sein, als ginge es um die Reise zu zwei komplett unterschiedlichen Planeten.
Klare Weggabelung?
Doch stimmt das wirklich? Fürchten Eltern zu Recht, dass die Bildungschancen ihrer Kinder durch den Besuch einer Mittelschule schlechter stehen? Sind Mittelschulen so schlecht wie ihr Ruf? Und wie zeitgemäß ist eine derartige Gabelung am Bildungsweg in so jungen Jahren?
Das Bild, das sich Max und seine Eltern am Tag der offenen Tür an den Wiener Schulen machen konnten, ist kaum eine Hilfe bei der Entscheidung. Da noch nicht absehbar ist, ob Max die erforderlichen Noten für eine AHS-Aufnahme schafft, müssen in kurzer Zeit möglichst viele Mittelschulen wie auch Gymnasien abgeklappert werden. Selbst wenn viele Standorte im November meist noch einen weiteren Besuchstag anbieten, können ein Rundgang und schnelle Gespräche nur bedingt Einblicke geben, wie der Lernalltag tatsächlich ablaufen wird.
Von der Volksschule haben die Eltern von Max nur einen Link zum Online-Schulführer der Stadt Wien bekommen. Dieser listet lediglich die Standorte nach Bezirk und Schulform auf, einen umfassenden Wegweiser zur Entscheidungshilfe gibt es nicht. Deshalb sind es bei den meisten vor allem Gespräche mit anderen Eltern, die bei der Orientierung helfen. Viele Eltern bestätigen jedenfalls, dass genau dieser informelle Austausch zentral für ihre Entscheidung war.
Welche Schule haben die anderen am Tag der offenen Tür besucht? Wie war ihr Eindruck vom Lehrpersonal, von der Direktorin, den räumlichen Gegebenheiten? Auffällig ist: In diesen Gesprächen berät man einander meist nur zu Gymnasien. Gerade so, als würde bei Mittelschulen die Qualität der Schule keine Rolle spielen und als würden sich Eltern künftiger Mittelschüler nicht ebenso all diese Fragen stellen.
Große Verunsicherung
Dabei steht man gerade bei Mittelschulen vor einigen Neuerungen und verschiedenen Zweigen oder Schwerpunkten. So gibt es Mittelschulen mit MINT-Schwerpunkten, also mit besonderer Förderung in naturwissenschaftlichen Gegenständen, sowie Sonderformen wie Musik- und Sportmittelschulen. Laut MS-Lehrplan können sich die Mittelschulen auch zwischen einem sprachlich-humanistischen, einem naturwissenschaftlich-mathematischen, einem ökonomisch-lebenskundlichen und einem musisch-kreativen Zweig entscheiden.
Seit dem Schuljahr 2020/2021 wird außerdem in Mittelschulen bereits ab der sechsten Schulstufe mit einem neuen Notensystem nach zwei Leistungsniveaus (“Standard” und “Standard AHS”) in den Fächern Deutsch, Mathematik und Lebende Fremdsprache unterschieden, nicht erst ab der dritten Schulstufe wie zuvor. Dazu kommt in der Bundeshauptstadt das seit 2009 laufende Konzept der “Wiener Mittelschule”, eine Art Upgrade der klassischen Mittelschule, in der nach dem Lehrplan der AHS unterrichtet wird, die aber auch Schülerinnen und Schüler aufnimmt, die als “nicht AHS-reif” eingeschätzt werden. Kurzum: Es ist selbst für bildungsaffine Menschen eine Herausforderung, sich einen guten Überblick zu verschaffen. Was bleibt, ist Orientierungslosigkeit und große Verunsicherung bei den Eltern.
Bestehende soziale Unterschiede
Als vor etwas mehr als zehn Jahren die Neue Mittelschule (NMS) die Hauptschule ersetzte, war das Ziel des von der damaligen Bildungsministerin Claudia Schmid (SPÖ) forcierten Reformprojekts, durch die teilweise Abschaffung der Leistungsgruppen und Maßnahmen wie Teamteaching die Schülerinnen und Schüler besser und individueller zu fördern und die Bildungsungleichheit zu verringern. Das ist im Großen und Ganzen nicht gelungen, wie die aktuelle Publikation 10 Jahre Regelschule – die (Neue) Mittelschule der Österreichischen Gesellschaft für Forschung und Entwicklung im Bildungswesen (Öfeb) zeigt.
Die sozialen Unterschiede am Übergang von der Volksschule in die Sekundarstufe seien in der letzten Dekade gewachsen, lautet die ernüchternde Bilanz. Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sind noch öfter an den Mittelschulen und noch seltener an AHS-Unterstufen zu finden als davor. Zwar wechseln mehr Schulkinder, insbesondere jene mit Migrationshintergrund, nach der Mittelschule in eine AHS-Oberstufe oder in eine Berufsbildende Höhere Schule (BHS), allerdings brechen sie die höhere Schule öfter vor der Matura wieder ab. Immerhin gab es geringfügige Angleichungen: So stieg das Kompetenzniveau in Englisch und Mathematik bei Schülerinnen und Schülern einer NMS stärker als bei jenen einer AHS.
Bildungsforscherinnen und -forscher kritisieren unter anderem das komplizierte Benotungssystem, das sich auch nach der Umstellung der Neuen Mittelschule auf die Mittelschule 2020 unter der türkis-blauen Regierung zu “keiner Erfolgsgeschichte” entwickelt hat. “Verbesserungen in Bezug auf Herkunftseffekte sind bis dato nicht eingetreten, die Diskrepanz zur Beurteilung in der AHS erscheint größer als vorher”, resümieren die Fachleute.
Laut einer aktuellen Erhebung der Statistik Austria wechselten im Schuljahr 2022/23 gerade acht Prozent der Mittelschüler an eine AHS-Oberstufe, darunter übrigens doppelt so viele Mädchen wie Buben. Der Rest teilte sich auf BHS, Berufsschulen und Polytechnische Schulen auf. Rund sieben Prozent führten die Ausbildung nicht fort. Somit sorgen sich Eltern durchaus zu Recht, dass die Bildungschancen ihres Kindes schon durch ein “Befriedigend” in der vierten Volksschule beschränkt werden. Schließlich ist es gängige Praxis, dass Gymnasien nur Kinder mit “Sehr gut” oder “Gut”, insbesondere in Deutsch und Mathematik, aufnehmen.
Vor allem der Standort zählt
Man ist also weit weg von dem gesteckten Ziel für Mittelschulen, wie es auf der Webseite des Bildungsministeriums formuliert ist: Je nach “Interesse, Neigung, Begabung und Fähigkeit für den Übertritt in eine weiterführende mittlere und höhere Schule zu befähigen sowie auf die Polytechnische Schule oder das Berufsleben” vorzubereiten.
Wie weit, das hängt allerdings vor allem vom Standort einer Mittelschule ab. Bildungsexpertin Christiane Spiel weist auf die deutlich höhere Zahl von Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache an den Mittelschulen in Wien und anderen größeren Städten hin. Zusätzlich hat es das Lehrpersonal hier in fast allen Mittelschulen mit Klassenschülerinnenhöchstzahlen zu tun, was einerseits am generellen Trend liegt, in Städte zu ziehen – aber auch am Nachzug von Migranten und Migrantinnen. Auch innerhalb Wiens gibt es größere Unterschiede, je nachdem, in welchem Stadtteil die Mittelschule liegt. Im ländlichen Raum kann das Lehrpersonal deutlich öfter mit kleineren Klassen arbeiten.
Trotz des immer noch vorherrschenden Bildes der Mittelschule als Auffangbecken der Abgehängten entscheiden sich Eltern immer öfter freiwillig dafür, ihr Kind, unabhängig vom Schulerfolg, nicht dem Druck des Gymnasiums auszusetzen. Gerade im urbanen Raum wählen diese Eltern in vielen Fällen eine private Mittelschule. Deren Ruf ist weitaus besser als jener der öffentlichen Mittelschulen. Doch das muss man sich erst mal leisten können. “Schief angeschaut” werde man trotzdem, wie Eltern berichten. Eine massive Flucht in Privatschulen ist zwar bisher ausgeblieben. Trotzdem ist in privaten Mittelschulen die Wahrscheinlichkeit kleinerer Klassen und somit individuellerer Betreuung höher. Ebenso die Chance, Klassen gezielter mit unterschiedlichen Kindern zu durchmischen. Doch das bedeutet einmal mehr, dass es wieder stark von den Möglichkeiten der Eltern abhängt, auch abseits des Gymnasiums einen passenden Bildungsweg zu ermöglichen. (Beate Hausbichler, Karin Krichmayr, 9.11.2024)
Lena, Klagenfurt
“Meine Kinder sind in den meisten Gegenständen Klassenbeste. Es wäre logisch gewesen, sie ins Gymnasium zu geben. Ich habe mich bewusst dagegen entschieden. Warum? Ich habe die Matura mit ausgezeichnetem Erfolg und einem Burnout abgeschlossen und kann mich noch an den überwältigenden Leistungsdruck erinnern – obwohl ich mir nicht schwergetan habe. Das will ich meinen Kindern nicht antun.
Während sie ihre Hausaufgaben spielerisch erledigen und den restlichen Tag Kinder sind, sind die Kinder von Freunden, die in eine AHS gehen, vor allem eines: fertig. Meine Kinder gehen allerdings auf eine private Mittelschule. Das war der Kompromiss. Die Öffentlichen Mittelschulen in Klagenfurt müssen auffangen, was die Gymnasien nicht haben wollen. So furchtbar das ist.”
Thomas*, St. Pölten
“Wir waren mit unserem ältesten Sohn bei mehreren Tagen der offenen Tür von verschiedenen Schulen in St. Pölten. Da er sehr sportlich ist, war unter anderem ein Gymnasium mit Sportzweig dabei, aber auch eine etwas außerhalb liegende Mittelschule mit ökologischem Schwerpunkt und die Privatmittelschule (PMS) Mary Ward im Stadtzentrum.
Die Noten hätten zwar für das Gymnasium gepasst, aber ihm war die Schule viel zu groß. Letztendlich haben wir uns gemeinsam daher für die PMS entschieden, da genau in diesem Schuljahr eine neue Sportklasse etabliert wurde, die Qualität generell sehr gut ist und die Schule von unserem Wohnstandort aus öffentlich sehr gut und ohne Umsteigen erreichbar ist.”
Martina*, Vöcklabruck
“Meine beiden Töchter gehen in die örtliche Mittelschule, weil sie eine verschränkte Ganztagesform und innovative Lernkonzepte anbietet. Die Klassen sind sehr divers. Kinder mit und ohne Migrationshintergrund, Kinder mit sehr guten Noten, Kinder mit wengier guten Noten, Kinder mit und ohne Lernschwächen. Aber niemand wird einfach ,liegengelassen‘. Ich finde es toll, dass in den Hauptfächern immer zwei Lehrpersonen anwesend sind. Dadurch wird der Unterricht viel dynamischer.
Nicht verschweigen möchte ich, dass es sich bei der Schule um eine private Mittelschule der Franziskanerinnen handelt. Ich bin selbst Akademikerin, und meine Kinder sind sehr gute Schülerinnen. Sie gehen in die Mittelschule, einfach weil ich von der Schule überzeugt bin.”
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