Es fehlt nicht nur an Deutsch: Bittere Bilanz einer Wiener Volksschullehrerin

Integration

Viele Schulanfänger brächten kaum die für die erste Klasse nötigen Voraussetzungen mit, berichtet eine Pädagogin. Doch die Ohnmacht an den Schulen wachse

Ein Junge sitzt auf dem Boden und macht Hausaufgaben.
Ein Volksschüler macht eigenständig die Hausaufgabe: Diesem Wunschszenario stehe oft viel im Weg, erzählt eine Lehrerin. Es fehle an “banalen” Fähigkeiten, um durch den Alltag zu kommen.
IMAGO/Thomas Trutschel/photothek

Die Kinder könnten sich nicht richtig anziehen, einen Stift führen, mit einer Schere schneiden. Sie scheiterten daran, sich zu schnäuzen oder mit Messer und Gabel zu essen, hätten in sechs Jahren nicht gelernt, sich an Regeln zu halten. An “banalen Kulturtechniken” fehle es, sagt ihre Lehrerin, und dabei spreche sie nicht von Einzelfällen: “Viele Schulanfänger bringen kaum die für die erste Klasse nötigen Voraussetzungen mit.”


Johanna F.* unterrichtet nicht etwa an einer speziellen Institution für Kinder mit Entwicklungsstörungen. Ihr Arbeitsplatz befindet sich in einer öffentlichen Volksschule, wie sie in Wien keine Ausnahme ist. Nahe einer großen Plattenbausiedlung gelegen, beherberge der Standort viele Schülerinnen und Schüler aus – wie es F. nennt – “sozial deklassierten” Familien, der Migrantenanteil reiche an die 100 Prozent heran: “Im Bezirk sind wir als die Muslimenschule bekannt.”


F. kann auf viel Erfahrung bauen, sie arbeitet seit drei Jahrzehnten als Lehrerin. Im Vergleich zu ihren Anfangsjahren finde sie in der Volksschule heute eine andere Welt vor – doch leider keine hoffnungsvollere. Wolle sie ein ungeschöntes Bild bieten, könne sie dies allerdings nur unter dem Schutz der Anonymität tun. Die Bildungsdirektion als übergeordnete Behörde schätze Transparenz dieser Art nicht.


Zwei-Wort-Sätze als Maximum

Kinder, die zwar in Wien aufgewachsen sind, aber trotzdem nicht ausreichend Deutsch beherrschen: Was die offizielle Statistik unlängst einmal mehr als weitverbreitetes Phänomen belegte, kennt F. aus eigener Erfahrung. In ihrer Schule sei der Anteil jener Erstklassler, die dem Unterricht mangels Sprachkenntnissen nicht folgen könnten, noch höher als die als städtischer Durchschnitt ausgewiesenen 28 Prozent. Einfache Aufforderungen wie “Räumt die Schultasche ein!” oder “Gehen wir in den Turnsaal!” würden nicht verstanden, das aktive Vokabular gerate bei Zwei-Wort-Sätzen ans Limit.


Doch die Sprache sei eben nicht die einzige Sorge. Dazu gesellten sich all die anderen Defizite, von motorischen Problemen bis zur Unkenntnis elementarer Dinge. “Sie können nicht nur nicht auf Deutsch benennen, was ein Blatt und ein Baum ist, ihnen fehlt auch die Naturerfahrung”, bericht die Lehrerin. Gehe sie mit diesen Kindern in den Wald, gebe es ein großes Wow-Erlebnis: “So etwas haben wir noch nie gesehen.”


Offensichtlich verbrächten diese Kinder zu Hause viel zu viel Zeit vor Bildschirmen: “Niemand liest ihnen vor, es wird wenig mit ihnen gesprochen.” Dabei könne sie aus Erfahrung nicht behaupten, dass den Müttern und Vätern das Fortkommen ihrer Schützlinge egal sei – “sie bemühen sich schon”. Doch in – so der Fachbegriff – “bildungsfernen” Schichten fehle es schlicht an Verständnis, was der Entwicklung guttue. Manche Eltern seien auch in der Muttersprache Analphabeten.


Qualität nur auf dem Papier

Die Schule müsse also jede Menge Schwächen kompensieren, sei dafür aber in keiner Weise ausgestattet: “Wir haben ein riesiges Ressourcenproblem. Die pädagogische Qualität besteht vielfach nur mehr auf dem Papier.”


Viel zu knapp bemessen sei etwa die Zahl der Deutschförderkräfte. In der Praxis gingen deren Einsatzstunden oft dabei drauf, für krank gewordene Kolleginnen und Kollegen einzuspringen, das Gleiche gelte für die Teamlehrerinnen. In vielleicht zwei Einheiten pro Woche stünden die Pädagoginnen tatsächlich zu zweit in der Klasse, um sich individueller um die Schülerinnen und Schüler kümmern zu können, berichtet Johanna F.: “Früher waren es bis zu zehn Stunden.”


Zu spüren sei an ihrer Schule auch ein anderer Umstand, der Kinder mit einer körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigung betrifft: Zusätzliche Lehrkräfte für “sonderpädagogischen Förderbedarf” finanziert der Bund gemäß einer Regelung von 1992 maximal für 2,7 Prozent der Schüler pro Bundesland. Was eine vom Bildungsministerium in Auftrag gegebene Studie österreichweit feststellte, gelte für ihre mit Inklusionsklassen ausgestattete Schule erst recht, sagt F.: Der tatsächliche Bedarf sei deutlich höher.


Ausgebrannt und frustriert

Die Kritik von Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr (Neos), wonach der Bund zu wenig Personal für Ziele wie die Deutschförderung finanziere, könne sie folglich gut nachvollziehen. Im Stich gelassen fühle sie sich aber auch von der Wiener Bildungsdirektion, die über die Probleme hinwegtäusche: “Es ist wie in einem Potemkin’schen Dorf.”


Die zur Linderung der allgegenwärtigen Personalnot rekrutierten Quereinsteiger aus anderen Berufsgruppen seien alles andere als ein vollwertiger Ersatz, so F.s Diagnose, denn bei aller Einsatzfreude fehle es an der Qualifikation. Das beginne bei vermeintlichen Kleinigkeiten. Jede Volksschullehrerin wisse, dass man Kindern die Buchstaben besser in der Lautform – etwa “B” oder “D” – beibringt und nicht, um beim Beispiel zu bleiben, “Be” und “De” sagt. Quereinsteigern fehle es vielfach am didaktischen Rüstzeug.


Nehme der Staat nicht “viel mehr Geld in die Hand” und setze alle Hebel in Bewegung, um die Personalnot zu bekämpfen, drohe eine Abwärtsspirale, bilanziert F.: Noch mehr Kinder würden mit dürftigem Deutsch die Volksschulen verlassen, noch mehr Lehrer drohten aufzugeben. Junge Kolleginnen seien ausgebrannt und frustriert, weil sie ihre pädagogischen Ambitionen nicht annähernd umsetzen könnten. Angepeilter Ausweg: der Absprung ins beschaulichere Niederösterreich.


Was rasend macht

Vorrang bei der Ausstattung mit Ressourcen müssten “Brennpunktschulen” wie die ihre haben, fordert die Lehrerin. Spreche sich herum, dass solche Standorte die besten Angebote und Pädagogen bieten, würden vielleicht auch wieder autochthone Familien ihre Sprösslinge dorthin schicken. Derzeit würden der eigenen Schulen zwar “österreichische” Kinder zugeteilt. Doch oftmals wehrten sich die Eltern massiv dagegen – und erfolgreich.


Der Wahlkampf allerdings, fügt Johanna F. an, habe wenig Hoffnung auf eine Wende gemacht: “Dass die Schulen kein Thema waren, hat mich rasend gemacht.” (Gerald John, 19.11.2024)


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