Schlechtes Deutsch und andere Defizite: Das Scheitern beginnt nicht erst an der Schule

Integration

Wenn die Integration von Migrantenkids fehlschlägt: Was Lehrerinnen und Lehrer drastisch schildern, untermauern nüchterne Zahlen aus der Statistik

Überforderung: Wer sich an Pflichtschulen in den Ballungszentren umhört, stößt regelmäßig auf diesen Befund. Die Ursachenforschung kommt an der massiven Zuwanderung nicht vorbei. Viele Kinder, die schlecht Deutsch können, aus “bildungsfernen” Familien stammen, mitunter traumatische Flucht- und Kriegserlebnisse hinter sich haben: Die Schulen, so der Tenor, seien für diese Herausforderung bei weitem nicht gerüstet. In den Worten einer Lehrerin: “Wir können das nicht mehr stemmen.”

Alarmismus einer notorisch unzufriedenen Berufsgruppe? Auch die Statistiken bilden Scheitern ab – in mehrfacher Hinsicht.

In Wien fehlen jedem fünften Volksschulkind wesentliche Deutschkenntnisse, um de, Unterricht folgen zu können.
IMAGO/imageBROKER/alimdi / Jana

Sprache als Hürde

Eine davon stammt aus Wien, wo der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund mit rund 50 Prozent mit Abstand am höchsten ist. Jedem fünften Volksschüler fehlen mit Stand Oktober die Deutschkenntnisse, um dem Unterricht zu folgen. Betrachtet man nur die Erstklässler, dann ist der Anteil mit 44,6 Prozent noch deutlich höher (siehe Infokasten unten).


Es ist keineswegs so, dass die Betroffenen allesamt erst kürzlich zugezogen wären: 60,9 Prozent der außerordentlichen Erstklässler sind hier geboren. Die Zahlen zeigen somit, dass das Problem bereits vor der Schulzeit beginnt. Trotz des einen verpflichtenden Kindergartenjahrs lernen viele Migrantenkinder nicht gut genug Deutsch. Offenbar wachsen sie, wie etwa die durch den Film Favoriten bekannte Lehrerin Ilkay Idiskut feststellt, in relativ abgeschotteten Communitys auf.


Immer weniger Schulreife

Defizite gibt es auch bei Fähigkeiten, die nichts mit Sprachkenntnissen zu tun haben. Laut nationalem Bildungsbericht von 2021 landen österreichweit 10,7 Prozent eines Schulanfängerjahrgangs in der Vorschule, weil die Schulreife fehlt: Es hapert an Aufmerksamkeit, Konzentration und/oder Teamkompetenz und an kognitiven oder motorischen Fähigkeiten wie dem Umgang mit einem Stift. Von den Kindern mit nichtdeutscher Umgangssprache aber findet sich gleich ein Viertel in der Vorschule wieder, Tendenz steigend: Zehn Jahre zuvor lag der Anteil “nur” bei einem Fünftel.


Leider gelinge es oft nicht, die Rückstände genügend aufzuholen, liest Mario Steiner vom Institut für Höhere Studien (IHS) aus den Daten heraus. Wer in der Vorschule war, hat statistisch ein deutlich größeres Risiko, keinen Abschluss mit Matura zu schaffen und zum frühen Schulabbrecher zu werden. Die Fördermaßnahmen erfüllten ihren Zweck also nur unzureichend, folgert der Experte.


Rückstand bei Pisa

Das legt auch der Pisa-Test nahe, der Leistungen am Ende der Pflichtschulzeit misst. In Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften legen 15- und 16-Jährige mit Migrationshintergrund im Vergleich zu autochthonen Gleichaltrigen Rückstände an den Tag, die durchschnittlich zwei bis drei Lernjahren entsprechen. Abermals gilt: Der jüngste Flüchtlingszuzug erklärt das Resultat nur bedingt. 63 Prozent der getesteten Migrantenkinder sind in Österreich geboren. Lediglich sieben Prozent waren bei ihrer Ankunft im Land älter als zwölf Jahre.


Die Hälfte des Rückstands ist mit ungünstigeren sozioökonomischen Verhältnissen zu begründen, in denen Zuwanderer aufwachsen. Fehlt Eltern selbst Schulwissen, können sie wenig beim Lernen helfen. Es mangelt an Geld für Nachhilfe, Büchern, Rückzugsräumen und mitunter auch am Verständnis für Bildung. Für den anderen Teil sind Faktoren verantwortlich, die direkt mit der Migration zusammenhängen, angefangen bei der Sprache.


Abgehängtes Drittel

Letztlich zählt laut Steiners Berechnung fast ein Drittel aller außerhalb der EU geborenen 14- bis 25-Jährigen zu den frühen Bildungsabbrechern, hat also keinen Abschluss über die Pflichtschule hinaus. Unter den hierzulande Geborenen beträgt der Anteil lediglich neun Prozent.


Natürlich kann man aus diesen Zahlen auch einen Erfolg herauslesen: Zwei Drittel der Migranten legen eine gute Bildungskarriere hin. Doch dem abgehängten Drittel drohen bittere Konsequenzen. Wem Bildung fehlt, ist häufiger arbeitslos, arm und krank, stirbt früher, beteiligt sich weniger am politischen und öffentlichen Leben. Für das Funktionieren der Gesellschaft ist das Gift.


Was zu tun ist? Die von Experten geforderte Gesamtschule der Zehn- bis 14-Jährigen ist ideologisch umstritten, hat also wenig Chancen auf Umsetzung. Konsensfähiger sind ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr, eine systematischere Einbindung der Eltern, der Ausbau der Ganztagsschulen und die viel bessere Ausstattung von “Brennpunktschulen”, wobei der verbreitete Personalmangel eine Riesenhürde ist. An Aufgaben fehlt es der künftigen Regierung also nicht. (Gerald John, 24.11.2024)


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