Abhängig und ausgeliefert: Fast jede zweite 24-Stunden-Betreuerin erlebt Gewalt
Studie
Eine neue Erhebung unter anderem der Uni Wien zeigt die in vielen Fällen prekären Arbeitsbedingungen migrantischer Arbeitskräfte auf
Sie betreuen und pflegen Österreichs alternde Bevölkerung in deren vier Wänden, und das sieben Tage die Woche, für zwei oder vier Wochen am Stück. Dabei sind sie als Selbstständige auf dem Papier auf sich allein gestellt. Die Rede ist von den migrantischen 24-Stunden-Betreuerinnen, die monatlich zwischen Arbeitsleben in Österreich und Privatleben in der Heimat in Ländern wie der Slowakei, Rumänien oder Bulgarien hin- und herpendeln.
Welche Probleme und Missstände die Nonstop-Arbeit am Wohnort mit sich bringt und welche teils zwielichtige Rolle die Vermittlungsagenturen spielen, darüber hat DER STANDARD immer wieder berichtet. Einen großen Einblick in die Arbeitsrealität bietet nun eine neue, nicht repräsentative Studie von Forba (Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt), der Universität Wien und der Interessenvertretung IG24 – und er fällt erschreckend aus.
Gewalt, sexuelle Belästigung und Rassismus
In der großen Online-Erhebung wurden fast 1500 24-Stunden-Betreuerinnen in ganz Österreich zu unterschiedlichen Themenbereichen befragt. Ein zentrales Ergebnis: Fast die Hälfte, konkret 45 Prozent, der befragten Frauen gaben an, dass sie in ihrer Betreuungsarbeit verbale, psychische und/oder physische Gewalt erlebt haben. 14 Prozent sind von sexueller Belästigung oder Gewalt betroffen und 23 Prozent mit Rassismus am Arbeitsplatz konfrontiert. Dabei handelt es sich nicht nur um Gewalt am Arbeitsplatz, sondern auch um Gewalt “zu Hause” – da sie ja, zumindest in der Zeit, in der sie in Österreich sind, mit den zu betreuenden Personen unter einem Dach leben.
Laut den Studienautorinnen kommt hier erschwerend hinzu, dass durch die Isolation – im Gegensatz zu anderen Berufsfeldern – keine Gespräche mit Kolleginnen oder Vorgesetzten möglich sind. Von den Befragten mit Gewalterfahrung erhielten nur 15 Prozent Hilfe und Unterstützung von der Wirtschaftskammer, ihrer offiziellen Interessenvertretung, anderen Organisationen oder ihrer Agentur. Wie viele versucht haben, Hilfe zu holen, wurde allerdings nicht erhoben.
Starke Abhängigkeit von Agenturen
Auch die Selbstständigkeit ist ein großes Thema. Wegen des geringen Entscheidungsspielraums der Frauen bei Gehalt, Verträgen und Einsatzort sprechen Arbeitsrechtsexperten seit langem von Scheinselbstständigkeit. Die Studie unterstreicht diesen Befund: Das Honorar der Betreuerinnen wird nur in neun Prozent der Fälle von diesen selbst bestimmt – oder verhandelt. In der Regel machen das die Agenturen, wie auch die Festlegung der sonstigen Inhalte des Betreuungsvertrags.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass rund 65 Prozent der Betreuerinnen die Agentur generell oder zumindest gelegentlich als Arbeitgeberin wahrnehmen, allerdings ohne zentrale Leistungen wie etwa die Vermittlung im Falle eines Konflikts mit Klienten oder Angehörigen zu erhalten. Rund 80 Prozent der Befragten wünschen sich mehr Spielraum bei den Verhandlungen ihrer Arbeitsbedingungen.
Zwei Stunden Pause pro Tag
Wie stark die Betreuerinnen jeden Tag gefordert sind, wird auch beim Blick auf die tägliche Arbeitszeit deutlich. Für 64 Prozent der Betreuerinnen dauert ein Arbeitstag zwischen zehn und 14 Stunden. 14 Prozent arbeiten sogar mehr als 14 Stunden am Tag. Jede fünfte Frau muss auch jede Nacht ihren Klienten oder ihre Klientin betreuen. Nicht einmal die tägliche Ruhepause kann die Hälfte der Befragten einhalten. Aus diesem Grund wünschen sich die Frauen für ihre Zukunft geregelte tägliche Arbeitszeiten (96,9) und die Einhaltung der täglichen Pause (98,9).
“Der einzige Weg, um die hochproblematischen Arbeitsbedingungen in der Branche nachhaltig zu verbessern, ist, ein gesetzliches System der Anstellung zu schaffen, wie es etwa in der Schweiz bereits existiert”, sagt Flavia Matei von der Interessenvertretung IG24. Lösungen braucht es auf jeden Fall: Für jede dritte Betreuerin ist es laut Studie eher unwahrscheinlich, dass sie auch noch in drei Jahren in Österreich als Betreuerin arbeitet. (Elisa Tomaselli, 26.11.2024)
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