Grüne Co-Chefin Judith Pühringer: “Die Neos haben ihre Chance verspielt”
Knackige 50 Sekunden dauerte die Verlautbarung, Monate die Entscheidungsfindung. Judith Pühringer will die Wiener Grünen nächstes Jahr als Spitzenkandidatin in die Kommunalwahl führen, verkündete sie am Mittwoch per Videoclip. Co-Vorsitzender Peter Kraus versprach, als Listenzweiter “hinter, neben und bei rauem Wind vor ihr” zu stehen. Die Basis muss die Personalie im Februar noch absegnen.
STANDARD: Dass Sie für die Grünen als Spitzenkandidatin antreten, ist überraschend. 2020 sind Sie noch als Quereinsteigerin ins Rennen gegangen. Was können Sie besser als andere?
Pühringer: Es gibt viele großartige Menschen bei den Grünen. Deshalb bin ich in die Partei gegangen, nachdem ich 15 Jahre mit arbeitslosen und armutsbetroffenen Menschen gearbeitet habe. Das Thema soziale Gerechtigkeit zieht sich wie ein roter – oder grüner – Faden durch mein Leben. Die Themen, die Wienerinnen und Wiener beschäftigen – Teuerung, leistbares Wohnen, Bildung –, wo viele Menschen Sorgen haben, sind die Themen, für die ich stehe. Die Klimakrise ist eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Insofern bin ich überzeugt, dass ich die Richtige bin.
STANDARD: Sozialpolitik ist jenes Thema, das man mit der SPÖ verbindet. Wie wollen Sie das Thema grün besetzen?
Pühringer: Da muss man gar nichts besetzen. Die SPÖ ist mutlos und träge geworden. Auch in ihren Kernthemen. Beim leistbaren Wohnen hat die SPÖ mit dem Roten Wien ein riesiges Erbe. Das ist 100 Jahre alt. Die SPÖ ruht sich darauf aus und hat keine Vision, die Stadt zu gestalten. Wenn die SPÖ soziale Gerechtigkeit in Zeiten der Klimakrise ernst nehmen würde, würde sie im Gemeindebau die Energiewende vorantreiben: PV-Anlagen installieren und so günstige Energie anbieten. Das passiert nicht. Viele Gemeindebauten werden ihrem Schicksal überlassen. Auch schafft es die SPÖ nicht, eine Leerstandsabgabe einzuführen, und die Wohnbeihilfe ist ein Skandal.
STANDARD: Wollen sich die Wiener Grünen als die bessere SPÖ positionieren?
Pühringer: Wir haben mutige und visionäre Pläne: vom leistbaren Wohnen bis zur Bildung. In der Schule kracht es. Das ist Systemversagen. Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr zeigt nur auf den Bund und sagt: Der ist schuld, der soll’s richten. Aber bei den Kindergärten etwa kann er selber gestalten und dafür sorgen, dass Kinder ausreichend die Sprache lernen, es kleinere Gruppen gibt, dass die Kindergärtnerinnen und Kindergärtner ihren Job gut machen können.
STANDARD: 45 Prozent der Erstklässlerinnen und Erstklässler sprechen nicht gut genug Deutsch, um dem Unterricht zu folgen. Sie fordern mehr Durchmischung in den Volksschulen. Wie soll das funktionieren?
Pühringer: In meinem Wohnbezirk Hernals sind zwei Volksschulen nebeneinander. In der einen haben 99 Prozent der Kinder Deutsch als Erstsprache, in der anderen 99 Prozent eine andere Sprache. In die berühmten Bobo-Schulen gehen Kinder mit Akademiker-Eltern. Sie stammen aus privilegierten Verhältnissen. Derzeit fließen der Wohnort und Geschwister in die Schulzuteilung ein. Ich will, dass auch der sozioökonomische Hintergrund ein Kriterium wird.
STANDARD: Wie soll das in der Praxis laufen?
Pühringer: Möglichst unbürokratisch. Es geht darum, diese himmelschreiende Ungerechtigkeit ein Stück weit zu lindern: bei der Verteilung der Kinder und der Ausstattung mit Ressourcen. Ein echter Chancenindex würde Ausgleich schaffen – mit mehr Unterstützungspersonal, mehr Sprachförderkräften. Das passiert aber nicht. Lehrende werden alleingelassen.
STANDARD: Jene Erstklässler, die nicht ausreichend Deutsch sprechen, waren im Schnitt mehr als zwei Jahre im Kindergarten. Braucht es drei verpflichtende Kindergartenjahre?
Pühringer: Es braucht mindestens zwei verpflichtende Kindergartenjahre. In Wien ist die Zahl der Einrichtungen verhältnismäßig hoch. Aber es braucht mehr Ausbau. Jeder Kindergarten muss eine eigene Sprachförderkraft haben. Das liegt im Einfluss der Stadt.
STANDARD: Sollen Eltern, die bei der Integration der Kinder nicht kooperieren, sanktioniert werden?
Pühringer: Nein. Wir müssen alle Eltern einladen, eine Bildungsvision für die Kinder zu entwickeln. Eltern wollen alle das Beste für ihr Kind. Sie wissen zum Teil aber nicht, was möglich ist, und scheitern auch an ihren eigenen Deutschkenntnissen und den eigenen Möglichkeiten für ihre Kinder.
STANDARD: Wien wird vorgeworfen, dass seine Sozialleistungen ein Pullfaktor für Zuwanderung sind. Braucht es Anpassungen?
Pühringer: Die Debatte um Mindestsicherung und Sozialhilfe muss im Bund geklärt werden. Wir haben einen Fleckerlteppich, es braucht einheitliche Regeln und mutige Reformen. Als Erstes würde ich Kinder aus der Sozialhilfe nehmen und eine Kindergrundsicherung einführen – mit einem guten Mix aus Geld- und Sachleistungen.
STANDARD: Bei allen Wahlen in diesem Jahr waren neben der Teuerung die Themen Migration und Integration für viele wahlentscheidend. Was sind da Ihre Ansagen für Wien?
Pühringer: Wir müssen eine Balance zwischen einer menschlichen und menschenrechtsbasierten Asylpolitik einerseits und den Sorgen der Menschen andererseits finden. Dann braucht es pragmatische Antworten für alle Lebensbereiche. Etwa im öffentlichen Raum: Streetworker, Sozialarbeiterinnen oder Grätzlpolizisten, die den Bezirk kennen, müssen dort präsent sein – auch am Abend. Und: Mehr Polizisten mit Migrationsgeschichte könnten zudem mit den Communitys reden und vermitteln. Sicherheit muss man ernst nehmen. Auch hier ist die SPÖ zu mutlos.
STANDARD: Sie kritisieren die SPÖ, an ihr wird nach der Wahl aber wohl kein Weg vorbeiführen. Warum sollte Michael Ludwig mit den Grünen und nicht wie bisher mit den Neos koalieren?
Pühringer: Wir verbinden soziale Gerechtigkeit mit dem Klimathema und legen glaubwürdige Lösungen auf den Tisch. In der Bildung hat Wiederkehr alles liegengelassen. Die Neos haben ihre Chance verspielt.
STANDARD: Gibt es etwas, das Rot-Pink gut gemacht hat?
Pühringer: Die Neos haben sich um Transparenz bemüht. Aber ehrlich: Sie sind nicht spürbar geworden. Als die Grünen in die Regierung gekommen sind, haben wir im ersten Jahr das 365-Euro-Ticket und die Mariahilfer Straße auf den Weg gebracht.
STANDARD: Trotz großer Hitze und der Zunahme an Extremwettersituationen haben die Grünen mit ihrem Kernthema Klimaschutz heuer bei keiner Wahl zulegen können. Fürchten Sie sich vor der Wien-Wahl?
Pühringer: Nein. Ich bin überzeugt, dass wir in Wien die Trendwende schaffen. In den grün regierten Bezirken sieht man, was da alles weitergegangen ist.
STANDARD: Bei der Nationalratswahl haben die Grünen genau in diesen Bezirken ein großes Minus eingefahren.
Pühringer: Viele rot-grüne Wechselwählerinnen und -wähler haben die SPÖ gewählt, um die FPÖ zu verhindern. In Wien wachsen die Bäume der FPÖ aber nicht in den Himmel. Wir bieten Lösungen an, die die Stadt grüner und das Leben leichter machen. Das wird kein Spaziergang. Aber ich bin voller Tatendrang und voller Kampfeslust, in diesen Ring zu steigen und mein Bestes zu geben.
STANDARD: Nicht mehr in den Ring steigen will Bundesparteichef Werner Kogler. Sie haben sich als Fan von Alma Zadić geoutet: Ist Sie Ihre Präferenz für Koglers Nachfolge?
Pühringer: Wir haben das große Glück, dass Werner Kogler mit großem Weitblick seine Übergabe vorbereitet und wir eine super Auswahl haben – großartige Frauen, die jetzt Ministerinnen sind. (Oona Kroisleitner, Stefanie Rachbauer, 27.11.2024)
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