Österreich stoppt laufende syrische Asylverfahren vorerst
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Alle Asylverfahren für syrische Staatsangehörige würden gestoppt, hieß es aus dem Innenministerium am Montag. Allein heuer hätten 12.500 Syrerinnen und Syrer um Asyl angesucht – mehrere Tausend Verfahren seien derzeit am Laufen sind, überprüft werden – auch in allen Familiennachzugsverfahren. Betroffen seien rund 7300 offene Verfahren in erster Instanz.
Der Schritt sei weniger dramatisch, als die Ankündigung klinge, reagierte Lukas Gahleitner-Gertz von der Asylkoordination. Er bestätige lediglich, dass die Lage in Syrien nach dem Sturz Assads unübersichtlich sei und bisherige Schutzgründe wegen Verfolgung durch das Assad-Regime nunmehr wegfallen würden.
Viele Wehrdienstverweigerer
Derzeit leben rund 100.000 Syrerinnen und Syrer in Österreich. Ende 2023 hatten rund 80.000 von ihnen Asyl, 15.000 subsidiären Schutz, 2024 sind bisher – vielfach aufgrund von Familienzusammenführungen – rund 10.000 weitere Asylgewährungen und rund 5000-mal subsidiärer Schutz hinzugekommen. Die meisten dieser Menschen sind vor dem Regime Bashar al-Assads geflohen – was die Männer angeht, vielfach, weil sie den Wehrdienst verweigerten: Sie wollten in keiner Armee dienen, die unter Assads Oberbefehl die eigene Bevölkerung mehrfach mit Giftgas angegriffen hat.
Dieser Asylgrund sowie Verfolgungsgründe wegen Opposition zum Assad-Regime würden nunmehr wegfallen, sagt Gahleitner-Gertz. Das werde die Spruchpraxis sowohl des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) als auch der gerichtlichen Instanzen ändern. Beim Verwaltungsgericht sei es sogar schon Montagfrüh zu einer entsprechenden Reaktion gekommen, schildert er: “Ein Richter hat einen Syrer aufgefordert zu überlegen, ob er seine Beschwerde gegen die Asylablehnung aufrechterhält – jetzt, wo Assad weg ist.”
Gewährtes Asyl bleibt bis auf weiteres bestehen
Keine Auswirkungen hat der Stopp auf Fälle von bereits gewährtem Asyl. Um ein Asylaberkennungsverfahren wegen Wegfalls der Schutzgründe zu starten, braucht es eine gründliche Einschätzung der Situation. In der derzeit in Syrien herrschenden “volatilen Lage” sei das unmöglich, sagte der Asylkoordinationssprecher. Das werde frühestens “in ein paar Monaten” der Fall sein.
Im vergangenen Jahr hatten immer mehr Syrer zudem subsidiären Schutz statt Asyl gewährt bekommen; subsidiärer Schutz wird ausgesprochen, wenn zwar keine Verfolgungsgründe vorliegen, eine Rückkehr aber mit Gefahr für Leib und Leben einhergehen würde. Grund dafür, so Gahleitner-Gertz: In Syrien konnte man sich seit einiger Zeit vom Wehrdienst freikaufen. Die subsidiären Schutzgewährungen würden auf alle Fälle bestehen bleiben – solange es zu keiner Beruhigung in dem seit langen Jahren von Kämpfen und Zerstörung geprägten Land komme.
Euphorie und Unsicherheit in der Community
In der syrischen Community mischen sich neben Freude über den Sturz des Langzeitdiktators Assad jetzt auch Unsicherheit – nicht nur darüber, wie es im Heimatland Syrien weitergeht, sondern auch, was das für ihr Leben in Österreich bedeutet. Das erzählt Abdulhkeem Alshater, der Vorsitzende der Freien syrischen Gemeinde Österreichs, im STANDARD-Gespräch. Dessen Kundgebung vor dem Parlament schlossen sich am Sonntag nicht, wie zuerst angenommen, 3000 Menschen an – letztlich feierten 30.000 Syrerinnen, Syrer und Sympathisanten am Wiener Ring den “Tag der Freiheit”, wie ihn Alshater nennt.
Doch bei vielen würden sich auch Sorgen breitmachen. “Manche, die in den Verfahren stecken, fragen sich jetzt, ob ihre Familien nach Österreich kommen können.” Die Rückkehr nach Syrien ist bei jenen im Verein, die schon länger hier sind, jedenfalls noch kein Thema. Momentan sei die Lage in Syrien noch zu gefährlich, und es müsse jetzt alles für den Aufbau eines friedlichen und demokratischen Syriens getan werden. “Es darf sich nicht das in Syrien wiederholen, was in Libyen oder Irak passiert ist”, sagt Alshater.
Viele in Österreich verwurzelt
Sollte sich die Lage im Heimatland beruhigen, würden bestimmt viele Syrerinnen und Syrer zurückkehren, glaubt der Vereinschef. Doch das hänge letztlich auch davon ab, wie stark sie hier in Österreich in den vergangenen Jahren Wurzeln geschlagen haben. “Viele arbeiten, zahlen Steuern, haben eine Familie gegründet und sich ein Leben in Österreich aufgebaut.”
Das aufzugeben seien “schwierige persönliche Abwägungen”, sagt auch Migrationsforscherin Judith Kohlenberger zum STANDARD. Denn tatsächlich hätten viele auch bereits die österreichische Staatsbürgerschaft oder würden langsam die Voraussetzungen – etwa auch die hohen Einkommenshürden – dafür erfüllen. Grundsätzlich ließe sich mit Blick auf die Studienlage sagen: “Je länger die Vertreibungssituation andauert, desto unwahrscheinlicher wird die Rückkehr.”
Zwei Gruppen Geflüchteter
Wer aber darf bleiben? Kohlenberger unterscheidet hier zwischen zwei Gruppen. “Die erste Kohorte, die im Zuge der großen Fluchtbewegung 2015 und 2016 gekommen ist, wird jedenfalls nicht betroffen sein von einer neuen Asylprüfung.” Eine Aberkennung wegen Wegfalls der ursprünglichen Fluchtgründe ist grundsätzlich nur bis fünf Jahre nach der Asylzuerkennung möglich.
Dann allerdings gibt es noch jene Gruppe von Geflüchteten, die im Jahr 2022 nach Österreich gekommen ist. “Diese waren zuvor meist mehrere Jahre in einem Transitland, wie etwa der Türkei.” Wenn bei diesen nun erst vor zwei Jahren Asyl gewährt wurde, dann könne ein Aberkennungsverfahren eingeleitet werden – “je nachdem, was damals als Schutzgrund angegeben wurde”.
“Schauen, was passiert”
Was die Flucht aus Syrien heraus anbelangt, so gebe es derzeit keine “wahrnehmbare transnationale Fluchtbewegung”, sagt Kohlenberger. Seit dem Aufstand in Syrien haben etwa 300.000 Menschen ihre Häuser verlassen müssen – sie waren zwischen die Fronten der Kampfhandlungen geraten oder gehörten Minderheiten an. “Einige dieser Menschen könnten versuchen zu fliehen, sollte sich die Lage nicht beruhigen”, sagt Kohlenberger.
Doch wohin? Der Libanon falle aufgrund der instabilen Situation weg, und auch in der Türkei haben sich über die Jahre starke Ressentiments gegenüber den Syrern breitgemacht, sodass die Menschen nicht dort bleiben wollen. Ob es aber tatsächlich zur Flucht außerhalb Syriens kommt, werde aber auch davon abhängen, wie und ob die Minderheitenrechte geschützt werden. “Die Haltung, die ich wahrnehme, ist, dass jetzt alle abwarten.”
Auch die Freie syrische Gemeinde Österreichs wird nun eine Pause bis Weihnachten einlegen, wie Abdulhkeem Alshater erzählt, und “schauen, was passiert”. (Irene Brickner, Elisa Tomaselli, 9.12.2024)
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