Doppelter Machtkampf in Gazas Schatten
Die israelische Armee und der Inlandsgeheimdienst Schin Bet hatten am Dienstag in Abstimmung mit der Grenzpolizei den Einsatz „Chomat Barsel“ („Eiserne Mauer“) gestartet. Auch am Mittwoch lief der Militäreinsatz in der im nördlichen Westjordanland gelegenen Stadt Dschenin weiter.
Im Hintergrund steht ein innerpalästinensischer Machtkampf zwischen der im Westjordanland regierenden Fatah-Gruppierung von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und der islamistischen Hamas. Zugleich ist es – neben Gaza – auch eine zweite Front zwischen Israel und der Hamas.
Angriffe auch mit Drohnen
Laut dem israelischen öffentlich-rechtlichen Sender Kan gab es einen neuen Drohnenangriff in der Stadt, die als Hochburg militanter Palästinenser gilt. „Die Situation ist sehr schwierig“, sagte Gouverneur Kamal Abu al-Rub am Mittwoch der Nachrichtenagentur AFP. Nach palästinensischen Berichten gab es am Dienstag in zahlreichen Häusern am Rande des Flüchtlingsviertels Razzien. „Die Besatzungsarmee hat mit Bulldozern alle Straßen, die zum Lager Dschenin und zum Krankenhaus führen, zerstört“, klärte Rub.
Die israelischen Streitkräfte ihrerseits sprachen am Mittwoch von einem „Anti-Terror-Einsatz“. Die Armee teilte mit, israelische Sicherheitskräfte hätten binnen 24 Stunden „zehn Terroristen getroffen“. Außerdem habe es Luftangriffe auf „Terrorinfrastruktur“ gegeben, mehrere an Straßen gelegte Sprengsätze seien entschärft worden.
Parallel zum Überfall der Hamas auf Israel und dem Gaza-Krieg nahm auch die Gewalt im Westjordanland zu – sowohl von jüdischen Siedlern wie von Palästinensern. Erklärtes Ziel der Hamas war es, mit dem Angriff am 7. Oktober einen Mehrfrontenkrieg gegen Israel auszulösen. Das gelang vorübergehend – spätestens seit der schweren Niederlage der vom Iran gestützten Hisbollah im Südlibanon hat sich diese Strategie aber als gescheitert erwiesen. Auch die Palästinenser im Westjordanland rief die Hamas zum Aufstand gegen Israel auf.
Israel sieht Iran am Werk
Die Militäraktion in Dschenin ist laut Israel Teil einer Strategie gegen den Iran, der auch der wichtigste Sponsor von Hamas, Hisbollah und den jemenitischen Huthis ist. Israel wirft Teheran den Versuch vor, auch militante Palästinensergruppen im Westjordanland finanziell und mit Waffenlieferungen zu unterstützen – etwa via Jordanien.
Israels Verteidigungsminister Israel Katz erklärte, der Einsatz sei „entscheidend“ für die „Eliminierung von Terroristen“ im Flüchtlingslager Dschenin, das über Jahrzehnte zur Stadt mit mehr 15.000 Bewohnerinnen und Bewohnern ausgebaut wurde. Die israelischen Streitkräfte würden die Entstehung einer neuen „Terrorfront“ dort nicht erlauben. Der Einsatz orientiere sich an den wiederholten Einsätzen der Armee in Gaza, so Katz laut der Tageszeitung „Haaretz“. Dort durchkämmt das Militär systematisch immer wieder die gleichen Gebiete, um ein Wiedererstarken der Hamas zu verhindern.
19 Jahre offener Streit
Fatah und Hamas kämpfen seit der letzten Wahl 2006 um die Vormacht und teilten sich nach einem bürgerkriegsartigen Konflikt seit 2007 im Prinzip die Macht: Die Fatah herrscht im Westjordanland, die Hamas in Gaza.
Ringen um Macht nach Gaza-Krieg
Bevor Israels Armee den Einsatz in Dschenin startete, hatten Polizeieinheiten der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) wochenlang versucht, die Ruhe im Flüchtlingslager wiederherzustellen – allerdings vergeblich. Die PA ist wegen tief sitzender Korruption und der politischen Schwäche gegenüber Israel seit Langem unbeliebt.
Klar ist, dass sich nach dem Ende des Gaza-Kriegs auch das innerpalästinensische Machtgewicht verschieben könnte. Die von der Fatah dominierte Autonomiebehörde wollte mit Dschenin auch ein wichtiges Zentrum wieder unter ihre Kontrolle bringen. Die PA argumentiert, sie wolle eine Hamas-Herrschaft ähnlich wie in Gaza verhindern.
Verrat vs. Opfern der eigenen Bevölkerung
Der Hamas wirft die Fatah vor, für ihre Ziele die Zivilbevölkerung geopfert zu haben. Ähnliches müsse im Westjordanland verhindert werden. Die Hamas wirft der Fatah wiederum Kooperation mit Israel und Verrat palästinensischer Interessen zum eigenen Vorteil vor.
Außerdem wollte die PA sich damit auch dafür in Stellung bringen, nach dem Krieg in der Verwaltung von Gaza eine entscheidende Rolle zu spielen. Internationale Akteure, allen voran die USA unter Ex-Präsident Joe Biden, hatten die PA – unterstützt von internationalen Truppen und Administrativkräften – als zentrales Element für die Verwaltung in Gaza und den Wiederaufbau gesehen.
Israels rechtspopulistische Regierung lehnt das allerdings strikt ab und hat – etwa durch das Zurückhalten von Geldern – die Autonomiebehörde über Jahre geschwächt. Israel zeigte bisher allerdings auch keine gangbare Alternative auf. Dazu kommt, dass sich die Sicherheitslage im Westjordanland, – auch für die dort lebenden Siedler – im Fall eines Kollapses der Autonomiebehörde deutlich verschlechtern würde.
Heikler Zeitpunkt
Der israelische Militäreinsatz nun zeigt, dass die Autonomiebehörde in ihren Bemühungen, die Kontrolle über Dschenin zu gewinnen, gescheitert ist. Auch bei deren Einsätzen waren mehrere Menschen ums Leben gekommen, und es gab zahlreiche Verhaftungen.
Es ist der umfangreichste Einsatz Israels in Dschenin seit Langem. Das Vorgehen israelischer Streitkräfte erfolgt zu einer Zeit, da sich die ohnehin schon gespannte Sicherheitslage im Westjordanland angesichts vermehrter Anschläge von Palästinensern und radikalen jüdischen Siedlern verschärft.
Am Tag der Angelobung des neuen US-Präsidenten Donald Trump, der umgehend Sanktionen gegen Siedler aufhob, griffen vermummte Siedler ein palästinensisches Dorf an. Radikale Siedler und deren politische Vertreter in der Regierung machen sich Hoffnung, dass Trump Israel grünes Licht für eine Annexion des Westjordanlands geben könnte.
Höhepunkt der Gewalt im Westjordanland
Laut dem UNO-Amt für humanitäre Koordinierung (OCHA) war 2024 mit 1.420 Fällen von Siedlergewalt das Jahr mit den meisten derartigen Anschlägen, seit diese Daten erfasst werden. Laut israelischem Außenministerium gab es im Vorjahr 218 palästinensische Attentate gegen Israelis allein im Westjordanland.
Im seit 1967 von Israel besetzten Westjordanland leben inmitten von drei Millionen Palästinensern mehr als 490.000 Israelis in Siedlungen, die vom größten Teil der internationalen Gemeinschaft als illegal angesehen werden – aber immer weiter ausgebaut werden. Die Lage hat sich seit dem Beginn des Krieges zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen deutlich zugespitzt.
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