Obdachlosigkeit als “Erziehungsmethode”? Fall eines 16-Jährigen wirft Fragen auf

Kinder- und Jugendhilfe

In Vorarlberg wurde ein Jugendlicher von der Kinder- und Jugendhilfe wegen seines Verhaltens auf die Straße gesetzt. Handhaben das andere Bundesländer auch so?

Der 16-Jährige hat sich bei der früheren WG mittlerweile schriftlich für sein Verhalten entschuldigt. (Symbolbild)
IMAGO/Dreamstime

Der Fall eines 16-jährigen Vorarlbergers, der von der Kinder- und Jugendhilfe der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch auf die Straße gesetzt wurde, schlägt seit Freitag hohe Wellen. Der ORF Vorarlberg hat den Fall publik gemacht. Gewalttätig gegenüber anderen Jugendlichen in der Wohngemeinschaft oder Betreuern sei der Jugendliche nicht geworden, hieß es, er hatte offenbar Autoritätsprobleme. Seither hat der Jugendliche keinen festen Wohnsitz.


Frage: Was ist über die Vorgeschichte des Jugendlichen bekannt?


Antwort: Der 16-Jährige ist aufgrund von Problemen und Gewalt in der Familie in einer Wohngemeinschaft gelandet. Die Obsorge übernahm die Kinder- und Jugendhilfe Feldkirch. Es folgte der Wechsel in eine andere WG, ehe er aus dieser flog – und dadurch keine Bleibe mehr hatte. Ganz unschuldig sei der Jugendliche dabei nicht gewesen, sagt Sozialarbeiter Wolfgang Eller dem STANDARD; Eller sucht nun mit ihm eine neue Lehrstelle und bastelt an einem “Perspektivenplan für die Zukunft”. “In den WGs gibt es klare Regeln und Ausgehzeiten. An dem dürfte es gehapert haben.” Positiv formuliert sei der 16-Jährige zu “sehr Freigeist” gewesen und wollte seine Freunde sehen, sagt Eller. Seine alte Lehrstelle habe er aus ähnlichen Gründen verloren.


Frage: Was geschah nach dem Rauswurf aus der WG?


Antwort: Der Bursche hat erneut seine Erziehungsberechtigte, eine Mitarbeiterin der Kinder- und Jugendhilfe, gebeten, eine Wohnung für ihn zu finden. Er erhielt aber eine Absage. In einer E-Mail heißt es, man wolle dem 16-Jährigen erst helfen, wenn er sich für ein “positives Leben” entscheide und sich an Regeln halte. Was er genau machen könne, um Vertrauen zurückzugewinnen, sagte ihm die Mitarbeiterin nicht. Die Konsequenzen dürften ihr klar gewesen sein: “Jetzt bist du wohnungslos, und wir werden dir keine weiteren Angebote machen”, heißt es in der vom ORF veröffentlichten Mail.


Frage: Wie wurde diese “Erziehungsmethode” gerechtfertigt?


Antwort: Vom Land hieß es, dass die Unterkunftsgewährung in seltenen Einzelfällen “aufgrund krasser Missachtung der in einer Einrichtung geltenden Grundregeln” untragbar werde. Wenn Jugendliche die Kommunikation mit der Jugendhilfe aufrechthalten, dann könne versucht werden, dass sie eine andere Unterkunft erhalten. Diese Kommunikation untersagte die Leitung der Kinder- und Jugendhilfe aber mittels Terminsperre von sechs Wochen. Dies sei “sozialpädagogisch als Auszeit gedacht gewesen, um die Ernsthaftigkeit der Situation klarzumachen”, sagte der Feldkircher Bezirkshauptmann Herbert Butscher.


Frage: Wo ist der Jugendliche nach seinem Rauswurf aus der WG untergekommen?


Antwort: Laut Sozialarbeiter Eller bei Bekannten. “Das ist aber sehr unangenehm, weil er ständig in einer Bittstellerrolle ist.” In Notschlafstellen sei das Problem, dass man diese morgens verlassen muss und erst um 18 Uhr wiederkommen kann. Zum Vorgehen der Kinder- und Jugendhilfe sagt Eller: “Das ist schwarze Pädagogik, wenn Obdachlosigkeit als Strafe eingesetzt wird.”


Frage: Kommen solche pädagogischen Maßnahmen auch in anderen Bundesländern zum Einsatz?


Antwort: Aus Wien kommt dazu ein klares Nein. Auch wenn man den Kollegen aus Vorarlberg nichts ausrichten wolle, “Wien entlässt keine Minderjährigen in die Obdachlosigkeit”, sagt Ingrid Pöschmann von der MA 11. Selbst wenn ein Jugendlicher verhaftet und später enthaftet werde, müsste man ihn wieder aufnehmen. Vom Dachverband der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen heißt es, dass grundsätzlich alle Möglichkeiten einer sonstigen Unterbringung ausgeschöpft werden müssen. “Das ist die Pflicht der öffentlichen Hand”, sagt Obmann Gerald Herowitsch-Trinkl.


Frage: Wurden im Fall des 16-Jährigen wirklich alle Möglichkeiten ausgeschöpft?


Antwort: Nach einer “internen Besprechung” sei man zum Schluss gekommen, dass es keine andere Handhabe gegeben habe, sagt Bezirkshauptmann Burtscher dem STANDARD. Eingeräumt habe man aber bereits, dass die sechswöchige Terminsperre viel zu lang gewesen sei. Die Schwierigkeit sei gewesen, dass der Jugendliche auf eine Wohnung ohne Betreuung bestanden habe, “und das geht nicht”. Mitte Jänner habe man nun mit dem Jugendlichen einen neuen Hilfeplan vereinbart; ein Sozialarbeiter für eine ambulante und nachgehende Betreuung sei ihm zugewiesen worden, “um die berufliche, soziale und wohnliche Perspektive zu erarbeiten.” Wie lange es dauert, bis der Jugendliche einen Wohnplatz erhält, kann Burtscher nicht sagen.


Frage: Könnte dieser Fall ein rechtliches Nachspiel haben, weil die Kinder- und Jugendhilfe womöglich gegen ihre Obsorgepflicht verstoßen hat?


Antwort: Diese Frage wäre jedenfalls zu klären, sagt Christian Netzer von der Kinder- und Jugendanwaltschaft (KJA) Vorarlberg. Auch wenn ein Rauswurf aufgrund verschiedener Umstände erforderlich erscheinen kann, entbinde dieser Umstand die Kinder- und Jugendhilfe nicht von Ihrer Obsorgepflicht. Auf Aufklärung pocht indes die Opposition. Landtagsabgeordneter Reinhold Einwallner (SPÖ) forderte einen Kontrollausschuss: “Wenn man beim Land Obdachlosigkeit völlig selbstverständlich als Erziehungsmaßnahme einsetzt, ist für Kinder, die auf Schutz angewiesen sind, Gefahr in Verzug.” Auch für Claudia Gamon (Neos) widerspricht das Vorgehen fundamental dem Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe, schutzbedürftige junge Menschen zu unterstützen und zu fördern. Sie kündigte eine Anfrage an die zuständige Landesrätin Barbara Schöbi-Fink (ÖVP) an. (Elisa Tomaselli, 27.1.2025)


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