„Militäreinsatz“ vs. „Jagd auf Alawiten“

Wie die in Großbritannien sitzende Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Montag mitteilte, wurden in den am Donnerstag ausgebrochenen Kämpfen mehr als 1.300 Menschen getötet, darunter mindestens 973 Zivilisten. Eine unabhängige Bestätigung der Angaben gibt es nicht. Experten erinnerten am Montag aber daran, dass die Beobachtungsstelle sich auf ein Netzwerk von im Land befindlichen Informanten stützt und seit Jahren über die Lage in Syrien berichtet, und man diese auch weiterhin ernst nehmen könne.

Geht es nach der britischen BBC, wären die im Zusammenhang mit der Gewalteskalation genannten Todeszahlen die höchsten seit dem Sturz des Assad-Regimes. Zentraler Schauplatz ist mit den Küstengebieten Syriens und dem Latakia-Gebirge die Hochburgen des nach 54 Jahren gestürzten Assad-Clans, der ebenfalls der alawitischen Minderheit angehört.

Untersuchung zu Gewalt in Syrien

Dem Ausbruch der Gewalt in Syrien zwischen Anhängern des gestürzten Langzeitherrschers Baschar al-Assad und den neuen Machthabern sind nach Schätzung von Aktivisten auch Hunderte Zivilisten zum Opfer gefallen. Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa kündigte die Bildung eines Untersuchungskomitee an.

Von Assad-Anhängern koordinierter Angriff?

Für die syrische Übergangsregierung steht außer Frage, dass Assads verbliebene Anhänger nun auch hinter der jüngsten Gewalteskalation stehen. Das syrische Verteidigungsministerium erklärte in diesem Zusammenhang eine am Donnerstag nach einem „heimtückischen“ Überfall angelaufene Militäraktion am Montag wieder für beendet. Der Einsatz sei „erfolgreich“ verlaufen, erklärte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur SANA.

Es sei den Einsatzkräften „gelungen (…), die Angriffe der Überreste des gestürzten Regimes und seiner Offiziere abzuwehren“ und diese aus „entscheidenden“ Orten zu vertreiben. Man würde aber weiter daran arbeiten, die „Stabilität zu gewährleisten“ und „die Sicherheit der Bewohner sicherzustellen“, so der Ministeriumssprecher: Pläne für einen etwaigen „weiteren Kampf“ und zur „Eliminierung jeglicher künftiger Gefahren“ lägen bereits vor.

Der islamistische Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa sagte am Montag gegenüber Reuters, dass die für das Massaker an Zivilisten Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen würden: „Syrien ist ein Rechtsstaat. Das Gesetz wird seinen Lauf nehmen.“ Für den Ausbruch der Gewalt in den vergangenen Tagen machte er eine ehemalige, Assads Bruder treu ergebene Militäreinheit und eine nicht näher bezeichnete ausländische Macht verantwortlich, räumte jedoch ein, dass als Reaktion darauf „viele Parteien an die syrische Küste vorgedrungen sind und es zu zahlreichen Verletzungen gekommen ist“.

„Tötungen, Exekutionen und ethnische Säuberungen“

Das syrische Präsidialamt kündigte zudem eine „unabhängige“ Untersuchungskommission an, welche etwaige Übergriffe auf Zivilisten untersuchen und die Verantwortlichen identifizieren soll.

Die Beobachtungsstelle sprach zuvor von „Tötungen, Exekutionen vor Ort und ethnischen Säuberungsaktionen“ im Zuge der tödlichen Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften der neuen islamistischen Führung und Kämpfern der alawitischen Minderheit. Augenzeugen berichteten am Wochenende von regelrechten Jagdszenen, der griechisch-orthodoxe Patriarch von Antiochien, Johannes X., sprach von Massakern auch an Christen.

Die gegen Mitglieder der syrischen Sicherheitskräfte gerichteten Vorwürfe lösten international Empörung aus. US-Außenminister Marco Rubio machte „radikale islamistische Terroristen“ dafür verantwortlich. Frankreichs Außenminister Jean-Noel Barrot forderte, die Verantwortlichen für die Morde müssten bestraft werden. Auch das deutsche Außenministerium forderte die Übergangsregierung auf, „die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen“.

„Region noch lange nicht ruhig und stabil“

Die Führung in Damaskus müsste alle ausschließen”, die an den jüngsten Massakern an den Alawiten beteiligt waren, forderte im Ö1-Mittagsjournal auch die Syrien-Expertin Kristin Helberg. Auch wenn die syrische Übergangsregierung bereits das Ende der Kampfhandlungen erklärte, bleibe zudem vieles weiter unklar. Es gebe etwa Berichte, wonach sich Frauen und Kinder nach wie vor in den Wälder und Bergen versteckten.

Die ganze Region werde noch lange nicht ruhig und stabil sein, hieß es dazu von der Nahost-Expertin Gudrun Harrer. Diese sprach angesichts der jüngsten Gewalteskalation zudem von einer „angekündigten Katastrophe“, da es Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa bisher etwa verabsäumt habe, mit den Alawiten Gespräche zu führen.

Harrer: Kämpfe in Syrien „angekündigte Katastrophe“

Für die Nahost-Expertin und Journalistin Gudrun Harrer gleichen die Kampfhandlungen in Syrien einer „angekündigten Katastrophe“. Zwar hatte Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa angekündigt, mit allen Bevölkerungsgruppen Gespräche zu führen, die Alawiten wurden jedoch ausgelassen.

Vor allem unter den Alawiten wachse das Gefühl, dass die Interimsregierung der neuen islamistischen Machthaber sie unterdrückt und ausgrenzt, hieß es dazu in einer Lageeinschätzung vom Washingtoner Thinktank Institute for the Study of War (ISW). Geht es nach der „New York Times“, habe die neue syrische Führung Sicherheitsbedenken wie diese bisher heruntergespielt und erklärt, dass sie nach Jahrzehnten der Diktatur weitaus schlimmere Sicherheitsprobleme erwartet habe.

Führung einigt sich mit Kurden im Nordosten

Einen möglichen Wendepunkt in den Entwicklungen in Syrien könnte die Einigung der syrischen Führung mit den kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) im Nordosten darstellen. Scharaa und SDF-Oberkommandeur Maslum Abdi unterzeichneten am Montag ein Abkommen, das die Kontrolle über zivile und militärische Einrichtungen im Nordosten in staatliche Hand legt.

Kämpfer unter Führung der islamistischen Miliz Hajat Tahrir al-Scham (HTS) hatten am 8. Dezember Damaskus erobert und die jahrzehntelange Unterdrückungsherrschaft Assads sowie den 2011 begonnenen Bürgerkrieg beendet. Seit ihrer Machtübernahme hat die neue syrische Führung unter Übergangspräsident Scharaa wiederholt versichert, die Minderheiten im Land schützen zu wollen. Die HTS ist aus der Al-Nusra-Front hervorgegangen, dem syrischen Ableger des Terrornetzwerks al-Kaida. Den Bürgerkrieg ausgelöst hatten Massenproteste gegen Assads Folterregime, die dieser blutig niederschlagen ließ.

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