Warum der “sofortige” Stopp des Familiennachzugs doch etwas länger dauert

Staatssekretär Jörg Leichtfried (SPÖ), Innenminister Gerhard Karner (ÖVP), Bundeskanzler Christian Stocker (ÖVP) und Staatssekretär Josef Schellhorn (NEOS) am Mittwoch, 12. März 2025, im Rahmen des Pressefoyers nach einer Sitzung des Ministerrats im Bundeskanzleramt
Staatssekretär Jörg Leichtfried (SPÖ), Innenminister Gerhard Karner (ÖVP), Bundeskanzler Christian Stocker (ÖVP) und Staatssekretär Josef Schellhorn (Neos, v. li.): Mit dem Beschluss zum Familiennachzug waren alle drei Parteien einverstanden.
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Der Familiennachzug von anerkannten Flüchtlingen werde gestoppt, und zwar sofort. Das war von Vertretern der schwarz-rot-pinken Bundesregierung, seit es diese gibt, fast im Tagestakt zu hören. SPÖ und Neos seien einverstanden, verkündeten auch die neuen Regierungspartner. “Sofort ist jetzt”, präzisierte Bundeskanzler Christian Stocker (ÖVP) vor neun Tagen im ORF-Dreierinterview. Auch im Regierungsprogramm war die Absicht klar definiert: “Der Familiennachzug wird mit sofortiger Wirkung vorübergehend und im Einklang mit Artikel acht der Europäischen Menschenrechtskonvention gestoppt”, heißt es dort.


Vergangene Woche dann reiste Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) in dieser Angelegenheit nach Brüssel. Bei der EU-Kommission warb er für den Plan: Österreich werde ihn unter Bezugnahme auf einen Notstands-Artikel im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union umsetzen, der im Fall massiver Überlastung innerstaatlicher Systeme unter anderem ermöglicht, vorübergehend keine Asylanträge mehr anzunehmen, sagte er. Besagter Artikel hat mit dem Nachholen von Kindern, Eltern und Eheleuten anerkannter Flüchtlinge nur indirekt zu tun. Die Kommission kündigte eine rechtliche Prüfung des Vorhabens an.

Video: Nach dem Ministerrat haben sich Regierungsvertreter zu ihren Plänen für den Familiennachzug geäußert
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Beschluss als Willensbekundung

Am Mittwoch nun war es so weit. Während draußen auf dem Ballhausplatz gegen einen Stopp des Familiennachzugs demonstriert wurde, gab die neue Bundesregierung im Bundeskanzleramt bei ihrem zweiten Ministerrat eine Willenserklärung für ein vorübergehendes Aus des Zuzugs ab. “Wir haben entschieden, dass wir den Familiennachzug mit sofortiger Wirkung aussetzen wollen”, verkündete Stocker bei der Pressekonferenz danach: Die “massive Überlastung von Bildungssystemen und die Herausforderungen im Integrationsbereich” der vergangenen zwei Jahre aufgrund vieler Familiennachzugseinreisen dürften sich nicht wiederholen. 2023 und 2024 kamen zusammengenommen 18.000 Familienangehörige an, davon 13.000 meist schulpflichtige Minderjährige. “Es ist Zeit, auf die Stopptaste für diese vorübergehende Maßnahme zu drücken”, sagte der Kanzler vor der Presse.


Doch von heute auf morgen wird das nicht geschehen: Sofort ist nicht gleich. Vielmehr haben sich ÖVP, SPÖ und Neos am Mittwoch – erstens – auf eine Gesetzesnovelle verständigt, um einen Stopp des Familiennachzugs in Österreich rechtlich überhaupt erst zu ermöglichen. Und sie wollen – zweitens – durch ein neues Monitoring dafür sorgen, dass es keine Überlastungssituation aufgrund des Familiennachzugs mehr gibt. Ein neuer Integrationsbarometer soll demografische Daten sowie Daten über Sicherheit, Bildung, Gesundheit, Soziales, Wohnen, Arbeitsmarkt und Wirtschaft zusammenführen, um Prognosen erstellen zu können. In der Folge soll der Familiennachzug kontingentiert werden.


Neuer Gesetzespassus

Um besagte Gesetzesanpassung im Asyl- oder Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz sollen sich die zuständigen Legistinnen und Legisten bemühen, dann soll der Nationalrat sie beschließen. Derzeit fehlt eine solche Regelung, worauf auch der Europarechtsexperte Walter Obwexer und der Jurist und Sprecher der Asylkoordination Lukas Gahleitner hinwiesen. Der neue Passus wird wohl dem im Asylgesetz bereits enthaltenen Paragraf 36 ähneln, der das vorübergehende Aussetzen der Asylantragsannahme laut obengenanntem EU-rechtlichem Notstands-Artikel ermöglichen würde. Den Familiennachzug kann man auf dessen Grundlage nicht hintanhalten.


Der Paragraf könne “in spätestens einem halben Jahr” in Kraft sein, sagte Minister Karner nach der Pressekonferenz im Face-to-face-Gespräch mit Medienvertretern. Derzeit sei der Familiennachzug aber ohnehin praktisch gestoppt, betonte er dort. Tatsächlich kamen im heurigen Februar nur 60 Menschen über Familiennachzug nach Österreich: ein Ergebnis der strengeren Überprüfung der Anträge durch zusätzliche DNA-Tests seit Mitte 2024 sowie des Umstands, dass das Assad-Regime in Syrien gefallen ist. Seitdem wurden sämtliche Asyl- und Familiennachzugsverfahren von Syrerinnen und Syrern, die derzeit einen Großteil der Flüchtlinge in Österreich ausmachen, auf Eis gelegt.


“Menschlichkeit und Ordnung”

Für die SPÖ hatte sich davor bei der Pressekonferenz Staatssekretär Jörg Leichtfried zum Familiennachzugsbeschluss bekannt. Richtschnur in Asylfragen seien für seine Partei “Menschlichkeit und Ordnung”, sagte er. Auch bei einem anderen Ziel sei man mit ÖVP und Neos einig: “Die irreguläre Migration sollte auf null gebracht werden.” Gleichzeitig jedoch solle “selbstverständlich das Recht auf Asyl aufrecht bleiben”. Neos-Staatssekretär Sepp Schellhorn schloss sich dem an und mahnte gleichzeitig mehr Integrationsbemühungen in Hinblick auf den Arbeitsmarkt ein.


Die Haltung der Regierungspartner sei sehr positiv, sagte daraufhin Minister Karner. Vom Ex-Koalitionspartner, den Grünen, wäre ein Okay zu besagten Familiennachzugsmaßnahmen nicht zu haben gewesen, meinte er. Bei den Grünen reagierte die geschäftsführende Klubobfrau Sigrid Maurer: “Der Stopp des Familiennachzugs ist rechtlich wohl nicht umsetzbar. Die Bundesregierung setzt auf Showpolitik, die sie am Schluss nicht umsetzen kann”, schreibt sie.


Karner in der ZIB2: “Überzeugt, dass es rechtlich halten wird”

Am Mittwochabend war Innenminister Gerhard Karner beim ORF in der ZiB2 zu Gast, um die geplanten Maßnahmen zu erläutern. Moderator Armin Wolf stellte die Frage, ob es sich bei dem Familiennachzugsstopp nicht um “Showpolitik” handle, da im Februar nur 60 Menschen über diesen Weg nach Österreich eingereist seien – und im März lediglich “30, 40”, wie der Innenminister selbst zugeben musste.


Karner verteidigte das Vorgehen und betonte, dass der Stopp des Nachzugs aktuell Priorität habe und parallel dazu ein Gesetz erarbeitet werde. “Ich bin überzeugt, dass es rechtlich halten wird”, sagte er und betonte die Notwendigkeit, das neue Gesetz “so rasch wie möglich” auf den Weg zu bringen.


Wolf konfrontierte Karner mit Einschätzungen von Europarechtlern, wonach der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Regelung nicht akzeptieren werde. Karner hatte zuvor in einem Interview erklärt, “Reaktionen aus Brüssel sind mir relativ egal”, im Studio gab er sich “optimistisch, dass das Gesetz hält”. Karner verwies darauf, dass es auch andere europarechtliche Interpretationen gebe.


Ist in Österreich die öffentliche Ordnung zusammengebrochen?

Ein zentraler Punkt in der Debatte ist die Frage, ob der Familiennachzug tatsächlich eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt – das Argument, auf das sich die Regierung stützt.


Karner begründete den vermeintlichen Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung mit Problemen im Bildungsbereich, „Bandenkriminalität und Straßenschlachten”. Wenn das System überlastet sei, sei es seine Verantwortung, Maßnahmen zu ergreifen: “Es wird nicht einfach, aber es ist notwendig”, so der Minister.


Auf Wolfs Frage, wie Österreich reagieren werde, falls Deutschland tatsächlich Asylsuchende an den Grenzen abweist – CDU-Chef Friedrich Merz will sich dafür auf den gleichen EU-Artikel wie Österreich berufen –, entgegnete Karner, dass Deutschland sich noch in der Diskussion befinde, während Österreich bereits ein “fertiges Regierungsprogramm” habe.


Langfristig, so Karner weiter, müsse es das Ziel sein, dass Asylanträge an den EU-Außengrenzen gestellt werden. Auch müsse man dahinkommen, “wieder nach Syrien abzuschieben”. (Irene Brickner, toni, 12.3.2025)


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