Fünf Mythen über die Neutralität
Sicherheitspolitik
Österreichs Neutralität erfreut sich ungebrochener Beliebtheit, bis heute wird sie als identitätsstiftend gefeiert – und dennoch oft falsch gedeutet. Eine Einordnung

Die Bevölkerung hält daran fest, die Politik ebenso: Die Neutralität steht in Österreich trotz großer geopolitischer Umbrüche nicht zur Debatte. Dennoch sieht sich die Regierung wegen ihrer Ukraine-Politik oder der Aufrüstung immer wieder in Erklärungsnot.
Vor allem die FPÖ wirft ihr den Bruch der Neutralität vor. Doch diese schränkt den politischen Spielraum viel weniger ein als gedacht.
Mythos 1: “Immerwährend” heißt “für immer”
“Immerwährend” ist Österreichs Neutralität laut Gesetz. Der Zusatz bedeutet nicht, dass dieser Status nicht abgeändert werden darf. Der Diplomat und Jurist Gerhard Jandl erklärt in einem Beitrag für das Austria-Institut für Europa- und Sicherheitspolitik, dass der Begriff als Synonym für “dauernde Neutralität” entstanden sei. Das Wort entstammt einer “vielleicht nicht ganz glücklichen Übersetzung” von “neutralité perpétuelle”, einem vor über 200 Jahren für die Schweiz geprägten Terminus, sagt Jandl, aktuell Ständiger Vertreter Österreichs bei der OECD. Die Neutralität gelte permanent, also nicht nur für einen bestimmten Krieg. Sie sei eine Zusage, dass sich ein Land allgemein aus Kriegen herauszuhalten habe – aber nicht, dass der Status auf ewig gelten werde.
Mythos 2: Die Abschaffung wäre ein Kraftakt
Verankert ist die Neutralität in einem Bundesverfassungsgesetz und entgegen weitläufiger Meinung nicht im Staatsvertrag. Sie gehört nicht zu den Grundprinzipien der Verfassung. Für eine Abschaffung ist daher keine Gesamtänderung der Verfassung notwendig und auch keine Volksabstimmung – ob eine solche dennoch sinnvoll wäre, ist eine politische Frage.
Abschaffen ließe sich die Neutralität theoretisch leicht: durch eine Verfassungsänderung, für die eine Zweidrittelmehrheit im Parlament notwendig ist. Praktisch zeichnet sich diese derzeit nicht ab.
Laut internationalem Recht meint Neutralität die Nichteinmischung in zwischenstaatliche Kriege, etwa durch die Entsendung von Soldaten oder Waffen zur Unterstützung einer Konfliktpartei. Völkerrechtlich wurde Österreichs Neutralität 1955 verankert, indem alle Staaten, zu denen damals diplomatische Beziehungen bestanden, über ihr Inkrafttreten in Kenntnis gesetzt wurden. Würde Österreich das Gesetz ändern, wäre dafür laut gängiger juristischer Einschätzung lediglich eine erneute Benachrichtigung anderer Staaten erforderlich. Eine Zustimmung anderer Länder ist demnach aber nicht erforderlich.
Mythos 3: Neutrale sind bessere Friedensvermittler
Die Politik pflegt seit der Nachkriegszeit das Image der Republik, die dank Neutralität auch als kleiner Staat eine gewisse diplomatische Größe sei. Die Fachwelt äußert Zweifel an diesem Bild. Zwar habe die Neutralität Wien in der Vergangenheit durchaus attraktiv gemacht für die internationale Diplomatie, sagt Martin Senn, Politikwissenschafter an der Uni Innsbruck. Inwiefern das bis heute nachwirke, dafür fehle es an Forschung.
Für Mediation brauche es generell “mehr als den reinen Status der Neutralität”, sagt Senn. Heimische Politiker wie Ex-Kanzler Karl Nehammer argumentieren, dass Österreich als eines der wenigen EU-Mitglieder, das nicht zur Nato gehört, anders wahrgenommen werde. Fakt ist jedenfalls: Länder wie die USA oder kleinere Staaten wie Schweden, Finnland oder Norwegen wenden deutlich mehr Energie und Ressourcen auf, um diplomatische Prozesse zu unterstützen – und diese Länder sind auch Nato-Mitglieder.
Mythos 4: Österreich ist auch politisch neutral
Der Satz fällt seit Russlands Krieg gegen die Ukraine oft: “Österreich ist militärisch, aber nicht politisch neutral.” Jandl hält fest: Die politische Ausgestaltung könne sich “je nach politischen Gegebenheiten spürbar ändern”. Die allgemein festgehaltene “immerwährende Neutralität” bezieht sich auf das völkerrechtliche Kriegsteilnahmeverbot. Konkret festgeschrieben ist das Verbot des Beitritts zu Militärbündnissen und ausländischer Militärbasen.
Damit beschränkt sich die Neutralität auf einen militärischen “harten Kern”, was der Diplomat und Jurist Franz Cede “Avocado-Doktrin” nennt. Die Beteiligung an friedenserhaltenden Missionen oder Sanktionen ist ebenso möglich. Und: Neutralität verlangt “keine rhetorische Äquidistanz”, schreibt der Völkerrechtler Ralph Janik in einem Beitrag für die Österreichische Gesellschaft für Europapolitik.
Mythos 5: Verfassungsrecht schlägt EU-Recht
Österreich hat beim EU-Beitritt keinen Neutralitätsvorbehalt erklärt, sondern – im Gegenteil – in einer offiziellen Erklärung zugesagt, sich an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) und ihrer Weiterentwicklung konstruktiv zu beteiligen. Dafür wurde eigens das österreichische Verfassungsgesetz novelliert.
In der Verfassungsrechtslehre herrscht Übereinstimmung, dass damit die Reichweite des Neutralitätsgesetzes eingeschränkt wurde. Janik formuliert es so: Aus rechtlicher Sicht bleibe von der Neutralität “herzlich wenig” übrig, sobald die EU im Rahmen der GASP agiere. Österreich kann daher auch an militärischen Aktivitäten der EU mitwirken – wie, das kann es als neutraler Staat aber selbst entscheiden. (Anna Giulia Fink, 22.3.2025)
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