Harsche Kritik von Experten an ÖVP-Interpretation von Studie zu Familiennachzug

“Irreführend”

Die ÖVP nutzt eine Integrationsstudie, um für den Stopp des Familiennachzugs zu werben. Die Studie gibt das aber nicht her – eine Autorin distanziert sich

Plakolm Stocker Familiennachzug
Bundeskanzler Christian Stocker und Integrationsministerin Claudia Plakolm (beide ÖVP) haben sich die Ergebnisse einer Integrationsstudie “selektiv herausgepickt”, so der Vorwurf.
Foto: APA/MAX SLOVENCIK

Eine Studie, genau zur rechten Zeit: Am Sonntag sorgte eine Aussendung des Österreichischen Integrationsfonds für Aufsehen – und für Reaktionen der ÖVP. Die Studie, die der Integrationsfonds präsentierte, zeige, dass man nur mit einem Stopp des Familiennachzugs “unsere Systeme vor weiterer Überlastung” schützen könne, sagte Bundeskanzler Christian Stocker. Integrationsministerin Claudia Plakolm stimmte ihm zu und ergänzte in der ZiB 2, dass laut der Studie jene Menschen, die durch den Familiennachzug nach Österreich kommen, schwer integrierbar seien.


Der Haken: Sophie Röttger, eine Autorin der Studie, spricht auf Nachfrage von einer “irreführenden Verzerrung der Studienergebnisse” in der medialen Debatte. Auch Migrationsforscherin Judith Kohlenberger kritisierte die Darstellungen. Sie hat die Arbeit gelesen, war aber selbst nicht daran beteiligt. Die Ergebnisse seien “selektiv herausgepickt”, sagt sie. Die Studie sei aber “sehr differenziert” und zeige Vor- und Nachteile auf.


Der sozialwissenschaftliche Methodologe Günther Ogris spricht von einer “sorgfältigen wissenschaftlichen Arbeit”, die Presseaussendung sei aber eine “Fehlinterpretation”. Keiner der vom ÖIF zitierten negativen Effekte des Familiennachzugs auf die Erwerbsbeteiligung oder die Deutschkenntnisse sei “signifikant nachweisbar” oder in einer relevanten Größenordnung. Signifikant sei vor allem, dass über den Familiennachzug Nachgekommene eine höhere Ausbildungsbeteiligung aufwiesen sowie mehr Care-Arbeit für Kinder leisten würden als jene, die alleine ins Land gekommen sind.


Ableitung nicht rechtfertigbar

Kohlenberger kritisiert auch die Interpretation von Plakolm und Stocker, mithilfe der Studie einen Stopp des Familiennachzugs abzuleiten. “Eine derart krasse Maßnahme wie die Aussetzung von EU-Recht lässt sich unter Bezugnahme auf diese Studie nicht rechtfertigen”, sagt sie und kritisiert weiter den Umgang mit wissenschaftlichen Studien für politische PR: “Ich kann mir aus einer öffentlich finanzierten wissenschaftlichen Studie nicht selektiv nur jene Ergebnisse herausnehmen, die das eigene politische Anliegen stützen.”

Video: Hier können Sie nachschauen, wie die Regierung ihre aktuellen Pläne für den Familiennachzug präsentiert hat
APA; Thumbnail: APA/Hans Klaus Techt

Innerhalb der Bundesregierung wird derzeit an einem rechtlich riskanten Vorhaben gebastelt: Über eine Gesetzesänderung soll der EU-Notstandsartikel aktiviert werden können, um die ohnehin stark zurückgegangenen Zahlen bei der Familienzusammenführung weiter gen null zu drücken. Noch diese Woche soll ein Gesetzesvorschlag in den Nationalrat eingebracht werden, den es braucht, um die Notstandsklausel zu aktivieren. Damit dieses Vorgehen auch rechtlich hält, muss die Regierung belastbare Zahlen vorlegen, die eine massive Überlastung staatlicher Systeme durch Migration belegen.


ICMPD: Kein Kommentar

Die Studie selbst wurde vom International Centre for Migration Policy Development (ICMPD), einer internationalen Organisation, unabhängig erarbeitet, der ÖIF war Auftraggeber. Die Darstellung des ÖIF will das ICMPD nicht kommentieren, betont aber, in der Kommunikation nicht eingebunden gewesen zu sein. Der ÖIF verteidigte die Presseaussendung: Diese stelle zentrale Ergebnisse “faktenbasiert und nachvollziehbar” dar.


Die Studie vergleicht etwa Integrationswerte von Frauen, die über den Familiennachzug gekommen sind, mit jenen, die selbst einen Antrag gestellt haben. So arbeiten Frauen, die nachgezogen sind, zwar in den ersten drei Jahren weniger. Gleichzeitig beziehen sie aber weniger oft Sozialhilfe und sähen Herausforderungen im Alltag als weniger gravierend an. Und: Ihre Ehemänner würden in dieser Phase vermehrt arbeiten.


Vor- und Nachteile

Ähnlich beim Spracherwerb: So würden die nachgezogenen Frauen zwar anfangs weniger oft Deutschkurse besuchen als jene, die selbst einen Antrag gestellt haben. Innerhalb von fünf Jahren seien die Unterschiede in der Sprachkenntnis jedoch “nicht mehr zu beobachten”, heißt es.


Laut der Studie sind junge Geflüchtete, die nachgezogen sind, weniger schnell erwerbstätig als jene, die nicht im Zuge des Nachzugs gekommen sind – weil sie länger in Ausbildung sind. Langfristig verbessert eine bessere Ausbildung die Erwerbsaussichten. Ähnlich wie die Frauen haben auch die Kinder anfangs weniger Kontakt mit Österreichern, sind aber weniger psychisch belastet als jene, die selbst einen Antrag stellten. Die Studie basiert auf Online- und Telefonbefragungen zwischen 2018 und 2024, an denen rund 12.500 Personen in Österreich teilgenommen haben. (Laurin Lorenz, 24.3.2025)


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