Bundeskanzler Stocker: “Russland ist für unsere Demokratie hochgefährlich”

“Jeder wird einen Beitrag leisten müssen. Von nichts kommt nichts”, sagt Bundeskanzler Christian Stocker.
Helena Lea Manhartsberger

Christian Stocker sitzt am Kopf des langen Besprechungstischs im Kreisky-Zimmer des Kanzleramts, seines Büros. Die Einrichtung ist noch dieselbe wie unter Karl Nehammer – nur eine schwarze Couchgarnitur aus Leder hat der neue Kanzler mitgebracht. Als er seiner Frau Anfang des Jahres mitgeteilt hatte, dass er ÖVP-Chef werde, habe die bloß “Furchtbar!” gerufen. “Inzwischen hat sich die Furcht gelegt”, sagt Stocker. Es ist später Nachmittag, er bittet noch um einen Espresso. Vor ihm liegt nur eine Mappe, kein Handy.


STANDARD: Regieren Sie auch per Signal-Chatgruppe, Herr Bundeskanzler?


Stocker: (lacht) Nein. Die Digitalisierung bietet zwar für Österreich viele Möglichkeiten, aber ich bin – meinem Alter geschuldet – kein Digital Native. Für mich ist die bevorzugte Kommunikation das persönliche Gespräch.


STANDARD: Wenn Sie sich schnell mit dem Vizekanzler oder Ihren Ministerinnen und Ministern abstimmen wollen, haben Sie dafür keine Chatgruppe?


Stocker: Wenn ich mit dem Vizekanzler oder im Kreis der Ministerinnen und Ministern dringend etwas zu besprechen habe, mache ich das telefonisch.


STANDARD: Die ÖVP hat breite Erfahrung mit öffentlich diskutierten Nachrichten. Mehrere Ministerinnen haben schon erzählt, dass sie sich mit anderen Politikern in Chatgruppen austauschen. Haben Sie in Ihrer Regierung einen Leitfaden für den Umgang mit Chats ausgegeben?


Stocker: Nachdem ich selbst nicht Teil solcher Gruppen bin, bin ich auch mit den Leitlinien nicht vertraut.

Video: Das “Signal-Gate” in den USA, erklärt. Wenn der Player zum nächsten Video weitergesprungen ist, hilft ein Neuladen der Seite
AFP, Thumbnail: Reuters/Carlos Barria

STANDARD: In den USA wurde gerade eine gravierende Sicherheitslücke sichtbar, nachdem sich Regierungsmitglieder in einem Signal-Chat ausgetauscht hatten. Präsident Donald Trump scheint aber überhaupt auf Regeln zu pfeifen. Sind die USA noch eine astreine Demokratie?


Stocker: Die Entwicklungen in den USA, so verstörend sie in Teilen sein mögen, sind etwas, das eine Demokratie aushalten muss und – davon bin ich überzeugt – aushalten wird.


STANDARD: Werden Trumps Zölle den Wirtschaftsabschwung in Österreich weiter befeuern?


Stocker: Das wird sich erst weisen. Grundsätzlich halte ich es für kein gutes Rezept von Trump. Seine Zölle dürften sich als Lose-lose-Situation erweisen – für Europa und die USA.


STANDARD: Wie wird Österreich mit der neuen amerikanischen Aggressivität umgehen?


Stocker: Die USA sind und bleiben ein wichtiger Handelspartner. Wir brauchen die transatlantischen Beziehungen, auch wenn sie jetzt herausfordernder sind. Ich sehe in der neuen Situation aber auch die Chance, unsere Perspektive zu erweitern – es gibt auch alternative Handelspartner in Asien oder Südamerika. In den USA wird es gerade für viele Forscher ungemütlich. Ihnen sage ich: Österreich ist ein attraktiver Platz zum Forschen und Leben – bei uns sind sie herzlich willkommen!

Christian Stocker erklärt die Wirtschaftskrise: “Die Wirtschaft schrumpft, und dadurch nehmen wir auch weniger Steuern ein. Das wurde nicht vorhergesagt.”
Helena Lea Manhartsberger

STANDARD: In Österreich ist gerade das Budgetloch – mehr oder weniger über Nacht – doppelt so groß geworden. Können Sie verständlich erklären, wie das passieren konnte?


Stocker: Um die Größe des Budgetdefizits zu bewerten, müssen wir uns auf Prognosen stützen. Diese Prognosen haben sich geändert. Aber nicht, weil wir mehr Geld ausgegeben hätten, ganz im Gegenteil. Sondern deshalb, weil sich Österreich im dritten Rezessionsjahr befindet: Die Wirtschaft schrumpft, und dadurch nehmen wir auch weniger Steuern ein. Das wurde nicht vorhergesagt.


STANDARD: Der Rückgang der Wirtschaftsleistung ist in Österreich auch im EU-Vergleich extrem hoch. Was tun Sie dagegen?


Stocker: Ein Problem haben wir vor allem in der Industrie, deswegen erarbeiten wir gerade eine Standortstrategie. Wo wir als Politik etwas tun können, sind die zu hohen und dadurch schädlichen Energiekosten. Eine Chance für die österreichische Industrie sehe ich auch in der Rüstung, in die ganz Europa jetzt massiv investiert. Ein anderer Faktor sind die hohen Lohnkosten in Österreich. Hier wird KI helfen, Ressourcen besser zu nutzen. Es ist meine Vision, dass Österreich diesbezüglich in der Anwendung ganz vorn dabei ist.


STANDARD: Auch der Staat? Wird bald der Antrag fürs Arbeitslosengeld von der KI bearbeitet?


Stocker: Alles denkbar! Ich kann mir in der Finanzverwaltung vorstellen, dass Bescheide von Künstlicher Intelligenz vorbereitet werden, ich kann mir das auch in der allgemeinen Verwaltung gut vorstellen – sogar in der Justiz. In letzter Konsequenz werden aber immer Menschen entscheiden.


STANDARD: Auf die Schnelle hilft das fürs Budget noch nichts. Holger Bonin vom Institut für Höhere Studien sagt, die Republik lebe über ihre Verhältnisse. Im Wahlkampf haben Sie uns noch erklärt, Österreich brauche nicht zu sparen. Worauf müssen sich die Menschen jetzt einstellen?


Stocker: Wir verdienen als Staat aktuell weniger, als wir ausgeben. Das kann auf Dauer nicht funktionieren. Konkret bedeutet das, dass es wohl nicht mit weniger Arbeit gehen wird. In schwierigen Zeiten muss man sich mehr anstrengen, um das zu erhalten, was man hat – oder dazuzugewinnen. Der Schlüssel ist, dass wir die Wirtschaftsleistung wieder erhöhen.


STANDARD: Wird es niedrigere Lohnerhöhungen geben als in den vergangenen Jahren?


Stocker: Das verhandeln die Sozialpartner.

“Fest steht, dass Russland mit Destabilisierungsversuchen auf europäische Demokratien Einfluss nimmt – ich kann nicht ausschließen, dass das auch in Österreich der Fall ist”, sagt Christian Stocker im Gespräch mit dem STANDARD.
Helena Lea Manhartsberger

STANDARD: Themenwechsel: Ist Österreich aus Ihrer Sicht ein sicheres Land?


Stocker: Ja, natürlich. Trotzdem ist Sicherheit eine ständige Herausforderung.


STANDARD: Den Nachzug von Familienmitgliedern von Asylberechtigten möchte die Regierung zum “Schutz der nationalen Sicherheit” eindämmen. Österreichs Sicherheit gerät durch Zuwanderung also gerade ins Kippen?


Stocker: Natürlich haben wir ein Thema mit der Sicherheit in Hinblick auf Menschen, die nach Österreich gekommen sind. Nicht alle, die zu uns kommen, verhalten sich, wie man es sich von jemandem erwarten würde, der Schutz vor Verfolgung bekommt. Wir fordern von ihnen einen Beitrag – durch Arbeit oder gemeinnützige Tätigkeit. Der Familiennachzug hat zuerst unser Bildungssystem überfordert, doch das kann zu einem Integrationsproblem und in Folge zu einer Frage der Sicherheit werden. Mir ist aber bewusst, dass der vorübergehende Stopp des Familiennachzugs eine drastische Maßnahme ist.


STANDARD: Aber die Zahlen nachgezogener Familienmitglieder waren zuletzt doch ohnehin verschwindend gering.


Stocker: Wir wissen, wie viele potenzielle Anträge auf Familiennachzug aktuell möglich sind. Da geht es um mehr als 10.000 Menschen. Wir müssen der Realität Rechnung tragen: Eine Gesellschaft hat eine begrenzte Aufnahmefähigkeit.


STANDARD: Sollte Ihre Vorgehensweise rechtswidrig sein: Soll EU-Recht geändert werden?


Stocker: Ja, und mit dieser Haltung bin ich in Europa nicht allein. Politik muss ihre Ordnungskompetenz wieder glaubhaft umsetzen können.


STANDARD: Wird Österreich bald Menschen nach Syrien abschieben?


Stocker: Sobald es möglich ist, wird Österreich wieder nach Syrien abschieben. Bis dahin forcieren wir die freiwillige Rückkehr. Aber der Zugang, dass sich jeder aussuchen kann, in welches Land der Welt er geht, ohne einen Fluchtgrund zu haben, und sich dann zu erwarten, dass man selbst nach Straftaten hier verpflegt wird, das versteht doch niemand. Wer kein Aufenthaltsrecht hat, muss das Land verlassen.


STANDARD: Eine andere Frage der Sicherheit ist, wie geschützt Österreich vor dem Einfluss anderer Staaten ist. Denken Sie, hat Russland Einfluss auf die Nationalratswahl vergangenen Herbst genommen?


Stocker: Ich habe keine belastbaren Hinweise, dass dem so ist. Ich kann es also nicht beweisen. Fest steht aber, dass Russland mit Destabilisierungsversuchen, Desinformationskampagnen und Cyberattacken auf andere westliche europäische Demokratien Einfluss nimmt – ich kann nicht ausschließen, dass das auch in Österreich der Fall ist. Russland ist für unsere Demokratie jedenfalls hochgefährlich.


STANDARD: Viele sagen, Russland führe längst Krieg in der EU – durch hybride Kriegsführung über soziale Medien, sogenannte Wegwerfagenten, verdeckte Beeinflussung. Sind wir im Krieg und merken es gar nicht?


Stocker: Ich würde das so nicht formulieren. Aber Russland ist als kriegsführender Aggressor nicht nur für die Ukraine eine Bedrohung.


STANDARD: Österreich gilt als russischer Spionagehotspot. Was werden Sie dagegen tun?


Stocker: Wir werden die Gesetze verschärfen und es etwa auch unter Strafe stellen, wenn ein ausländischer Spion einen anderen ausspioniert – das ist bisher nicht verboten.

“Ob die FPÖ die Demokratie abschaffen will, weiß ich nicht. Mein Eindruck war aber schon, dass Kickl Anleihen nimmt am Regierungsstil von Trump”, meint der Kanzler und ÖVP-Chef.
Helena Lea Manhartsberger

STANDARD: Sicherheit kann auch nur dann gewährleistet werden, wenn die Bevölkerung in “das System” vertraut – der Politik etwas zutraut, jedenfalls aber Vertrauen in Rechtsstaat und Demokratie hat. Dieses Vertrauen ist zerrüttet. Wie ändern Sie das?


Stocker: Vertrauen verliert man vor allem dann, wenn die Verunsicherung Platz greift. Ich möchte den Menschen wieder Halt geben, indem ich berechenbare und planbare Politik mache. Und ich sage ehrlich, wenn ich etwas nicht weiß: etwa wie es mit dem Wirtschaftswachstum weitergeht. Ich kann nur sagen: Wir werden uns auf jedes Szenario bestmöglich vorbereiten. Ich werde auch nichts schönreden: Wir haben herausfordernde Jahre vor uns. Jeder wird einen Beitrag leisten müssen. Von nichts kommt nichts.


STANDARD: Hätte Österreich durch einen Kanzler Herbert Kickl einen Schritt in Richtung Autoritarismus gemacht?


Stocker: Ob die FPÖ die Demokratie abschaffen will, weiß ich nicht. Mein Eindruck war aber schon, dass Herbert Kickl Anleihen nimmt am Regierungsstil von Donald Trump. Und wenn ich mir ansehe, wie Checks and Balances in den USA gerade ausgehebelt werden, dann bin ich überzeugt, dass es kein guter Weg wäre, das nachzuahmen.


STANDARD: Was haben Sie in den Verhandlungen über Kickl gelernt?


Stocker: Ich dachte, dass sich Kickl für die Rolle des künftigen Regierungschefs ein Stück weit neu erfinden könnte, um der Verantwortung gerecht zu werden. Das hatte er aber nicht im Sinn.


STANDARD: Erfinden Sie sich denn gerade neu?


Stocker: In gewisser Weise schon. Ich war über zwei Jahre mit Leidenschaft Generalsekretär der Volkspartei. Jetzt möchte ich ein Bundeskanzler für alle sein – auch für jene, die nicht die ÖVP oder die anderen Koalitionsparteien gewählt haben.


STANDARD: Es ist wohl auch im Sinne einer FPÖ-Wählerschaft, dass Sie sich an strenger Asylpolitik versuchen. Aber wie wollen Sie eigentlich Grünen-Wähler abholen?


Stocker: Die Anliegen der Grünen-Wähler sind berechtigt. Der Klimawandel, die Erderwärmung sind ein Faktum. Die Frage ist, welchen Zugang man dazu wählt. Es ist in Ordnung, wenn Menschen ihre Ernährungsweisen anpassen und ihren CO2-Fußabdruck reduzieren. Ich halte nur nichts von Verboten. Wir müssen auf Technologie und Innovation setzen – wir sind Weltmarktführer, was die CO2-Abnahme aus der Atmosphäre betrifft. Den Grünen-Wählern sage ich: Wir wollen die Klimaziele erreichen, wir wollen den CO2-Ausstoß reduzieren.

Kanzler Christian Stocker besitzt eine schwarze Vespa, die er aber nur selten ausführt. Die Vespa auf seinem Schreibtisch hat er von Kanzleramtsministerin Claudia Plakolm bekommen.
Helena Lea Manhartsberger

Standard: Gibt es denn etwas, das Sie selbst tun, um Ihren CO2-Fußabdruck zu reduzieren?


Stocker: Eine Elektro-Vespa zahlt sich nicht aus. Ich fahre vielleicht zwanzig Kilometer im Jahr. Gerade bin ich aber dabei, eine Photovoltaikanlage mit Speicher anzuschaffen. Ich möchte mit erneuerbarer Energie autark werden. (Katharina Mittelstaedt, Gerold Riedmann, 29.3.2025)


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