Roter Teppich für serbische Protestradler
„Wir wollen Europa über die Lage in Serbien informieren“, sagte der 23-jährige Vladimir gegenüber ORF.at zwischen Euphorie über den überwältigenden Empfang und völliger Erschöpfung auf dem roten Teppich. Im Ziel fielen die Radler einander erleichtert in die Arme, viele hoben ihre Räder hoch. Begleitet wurde die Einfahrt der Radlergruppe von lauten „Pumpaj“-Rufen, das übersetzt sinngemäß „Druck machen“ bedeutet, und von serbischen Protestliedern aus der Zeit des Widerstands gegen den ehemaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic.
Die Protesttour startete am Donnerstag in Novi Sad in Serbien. Sie führt über Ungarn, die Slowakei, Österreich und Deutschland nach Frankreich. In Österreich wird neben Wien noch in Emmersdorf an der Donau, Linz und Salzburg Station gemacht. Am 15. April wollen die Studierenden Straßburg erreicht haben, nach insgesamt 1.300 Kilometern.
Unterstützung von serbischer Diaspora
Begleitet werden die Radler und Radlerinnen von einem Logistikteam für das Gepäck mit Ärzten, Fotografen und Psychologen zur Unterstützung. „Es ist anstrengend, aber der jubelnde Empfang in Bratislava am Nachmittag und dann in Wien tragen einen“, sagte die 24-jährige Nada von der Universität in Nis. Sie ist eine von neun Frauen im Radlerteam. An den einzelnen Stationen der Tour erhalten die Protestradler Unterstützung von der serbischen Diaspora.
In Wien sorgten mit ihnen solidarische Aktivisten und Aktivistinnen von der Initiative „Blokada Bec“ („Blockade Wien“) für den Empfang, Unterkunft und die Organisation der Kundgebung. Die Initiative wurde aus Solidarität mit den Protestierenden in Serbien Anfang des Jahres in Wien gegründet.
Neue Proteststrategie
Mit ihrer „Tour de Strasbourg“, dem „Radrennen um die Gerechtigkeit“, wollen die Studierenden aller serbischen staatlichen Universitäten Rechtsstaatlichkeit einfordern und vor den europäischen Institutionen – Europarat und EU-Parlament – auf die Lage in Serbien aufmerksam machen. Standen bisher Demonstrationen und Aktionen wie mehrtägige Fußmärsche in Serbien im Vordergrund der Protestbewegung, erneuerte sie mit der Radtour zu den europäischen Institutionen durch mehrere EU-Länder ihre bisherige Strategie.
„Das hier ist nicht einfach eine Radtour – es ist ein Weg der Hoffnung, des Widerstands und die Stimme all jener, die zum Schweigen gebracht wurden“, argumentieren die Studierenden. Es gehe um das Recht, ohne Angst, Zensur und Gewalt zu leben. Inzwischen richten sich die Proteste auch gegen die Regierung, vor allem aber die in dem politischen System verbreitete Korruption. „Statt Verantwortung bietet uns die Regierung Gewalt“, so die Studierenden. Gefordert werden ein Ende der Korruption, die Umsetzung von Rechtsstaatlichkeit und die Bestrafung korrupter Akteure.
Einsturz von Bahnhofsvordach als Auslöser
Auslöser für die Proteste war der Einsturz des Vordachs am Bahnhof von Novi Sad vergangenen November, der 16 Menschenleben forderte. Korruptionsvorwürfe rund um den Bau wurden laut. Für die Baukosten waren 3,5 Mio. Euro veranschlagt, die tatsächlichen Kosten betrugen mehr als das Vierfache. Gegen 13 Verantwortliche wurde Anklage erhoben, bestätigt wurde diese von der Justiz aber noch nicht.
Ende vergangenen Jahres gab es die ersten Proteste, vor allem getragen durch Studierende. Mit Fußmärschen durch das Land, Besetzungen von Unis und in mehreren Städten abgehaltenen Demonstrationen wurde die Protestbewegung immer breiter. Höhepunkt dieser großen Straßenproteste war die Massendemonstration in Belgrad Mitte März mit je nach Darstellung 100.000 bis mindestens 300.000 Teilnehmern und Teilnehmerinnen.

Die Kundgebung wurde aber vonseiten der Demonstrierenden aus Sicherheitsgründen vorzeitig abgebrochen, da in einem Bereich Panik ausgebrochen war. Vorwürfe wurden laut, dass das Regime dort eine eigentlich verbotene Schallkanone eingesetzt hatte. Das wurde von offizieller Seite dementiert, es gab aber laute Rufe nach einer internationalen Untersuchung.
Berichte über regierungsnahe Schlägertrupps
Immer wieder gab es Berichte über regierungsnahe Schlägertrupps. Zuletzt gab es Angriffe auf eine Dekanin an der Philosophischen Fakultät in Nis und einen führenden Oppositionspolitiker. Beide waren zuvor von Vucic wegen ihrer Unterstützung für die Studierenden kritisiert worden. Seit Monaten sind viele Universitäten in Serbien blockiert, ein großer Teil der Professoren und Professorinnen trägt den Widerstand mit.
Die wichtigsten Fernsehsender hingegen sind auf Regierungslinie. Sie warfen den Demonstrierenden von Beginn an vor, einen „Putsch“ zu planen und vom Ausland finanziert zu werden. Immer wieder rückten daher auch einige Medien in den Fokus der Proteste, zuletzt etwa der regierungsnahe Sender Informer. Seinen Beschäftigten wurde vorgeworfen, als „Manipulatoren“ zu agieren und „Lügen und Falschdarstellungen“ zu verbreiten.

Quereinsteiger neuer Regierungschef
Der autoritär regierende serbische Präsident Aleksandar Vucic hält die Zügel noch in der Hand, steht aber aufgrund der Proteste unter Druck. Am Sonntagabend beauftragte er einen in der Politik unbekannten Arzt, aber dezidierten Anhänger von Vucic, Djuro Macut, als neuen Regierungschef. Sein Vorgänger Milos Vucevic hatte im Jänner aufgrund der Proteste seinen Rücktritt angekündigt. Dieser wurde erst Mitte März vom Parlament gebilligt.
Macuts Aufgabe sei nun, in Serbien weiterhin Frieden und Stabilität zu bewahren und dabei Toleranz zu zeigen, teilte Vucic mit. Bis 18. April muss Macut nun eine neue Regierung bilden und vom Parlament bestätigten lassen. Gelingt das nicht, müsste Vucic Neuwahlen ausrufen lassen. Eine Zustimmung des Parlaments gilt aber bereits als gesichert. Auszuschließen ist aber auch, dass sich die Protestbewegung mit diesem Politikerwechsel zufriedengeben wird. „Mit dem neuen Premierminister wird sich nichts ändern“, sagte die Radlerin Nada. „Alles liegt in den Händen von Vucic.“
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