Welche Fragen nach dem ersten Prozess zur Causa Kellermayr offen bleiben

ANALYSE

Der Freispruch in Wels ist kein Skandalurteil, und doch bleibt ein misogyner Nachgeschmack und das Gefühl einer Verurteilung des Opfers

Seit 26. März stand der 61-jährige Bayer Roman M. insgesamt vier Tage in Wels vor Gericht. Er hatte der im Juli 2022 verstorbenen Ärztin Lisa-Maria Kellermayr insgesamt vier E-Mails und drei Nachrichten auf Twitter (heute X) gesendet. Seine und weitere Hassbotschaften versetzten die 36-jährige Ärztin, die sich öffentlich für das Impfen eingesetzt hatte, in Angst und Schrecken. In der Nacht von 28. auf 29. Juli 2022 verübte sie in ihrer Ordination in Seewalchen Suizid.

Am Mittwoch wurde M. freigesprochen. Der Freispruch war erwartbar und ist kein Skandal. Der Prozess hinterlässt dennoch Befremden. DER STANDARD erklärt einen Fall, der rechtlich komplex ist, aber ganz simple Züge von Frauenfeindlichkeit zeigte.

Der Angeklagte und Medienvertreter anlässlich des Prozesses am Landesgericht in Wels.
Der Angeklagte und Medienvertreter anlässlich des Prozesses am Landesgericht in Wels.
FOTOKERSCHI.AT/WERNER KERSCHBAUM

Das Delikt

Die Staatsanwaltschaft Wels klagte M. wegen des Verbrechens der gefährlichen Drohung (Paragraf 107 StGB) an. Dass er wegen dieses Grundtatbestands nicht von einem österreichischen Gericht verurteilt werden würde, war aber schon vor Prozessbeginn klar. Denn der Deutsche hatte die Nachrichten in seiner Heimat verfasst und abgeschickt. Er muss daher auch dort dafür vor ein Gericht gestellt werden. Wie sinnvoll solche Regelungen für Hassdelikte im Internet sind, darüber streiten sich die Rechtsgelehrten.


Die Schuldfrage

Bei der Schuldfrage, die in Wels verhandelt wurde, ging es um den sogenannten Qualifikationstatbestand zum Paragraf 107. Das Gericht sollte feststellen, ob die Nachrichten von M. dazu beigetragen hatten, dass sich Kellermayr das Leben nahm. Dass diese von ihm verschickt wurden, gab er zu. Er schrieb etwa, er wolle Kellermayr vor ein “noch einzurichtendes Volkstribunal” stellen. Ob das, neben brutalen, blutrünstigen Nachrichten eines noch nicht gefassten Darknet-Users und hohen Schulden, mit ausschlaggebend für die Selbsttötung war, konnte das Schöffengericht nicht feststellen. Auch konnte die zweite wichtige Frage nicht bejaht werden: Konnte der Angeklagte vorhersehen, dass bei Kellermayr eine Suizidalität vorlag?


Das Opfer

Das Opfer hatte sich, als die Republik dringend Medizinerinnen brauchte, freiwillig für Notdienste und Impfungen gemeldet. Kellermayr hat dabei Tausenden geholfen, in der Behandlung schwerer Verläufe früh gute Erfahrungen mit einem Asthmamedikament gemacht und diese Expertise öffentlich geteilt. Durch ihre damit erworbene Bekanntheit wurde sie zur Zielscheibe von Corona-Leugnern und Impfgegnern. Vor Gericht wurde ein anderes Bild der Ärztin gezeichnet: das einer unzuverlässigen, narzisstischen Person. Um die Schuldfrage des Angeklagten zu klären, wurde nicht etwa dessen Glaubwürdigkeit hinterfragt, sondern jene der Ärztin. Wer den Fall nicht kannte, konnte meinen, die Tote säße auf der Anklagebank.


Die Zeugen

Im Zeugenstand waren Kolleginnen und Kollegen von der Ärztekammer, eine Polizistin und mehrere Fachleute aus Neurologie und Psychiatrie. Fast alle betonten, dass sie der verängstigten Ärztin geraten hätten, sich öffentlich nicht mehr zu äußern, dann würden die Hassnachrichten aufhören. Befragte Psychiater, darunter Adelheid Kastner, die mit Kellermayr nicht als Patientin, sondern über die Verfasser der Hassnachrichten gesprochen hatte, sagten alle, dass sie keine Suizidalität bei der Ärztin feststellen konnten. Auch von ihren früheren Suizidversuchen war nichts bekannt.


Die Polizei

Die Polizei weist und wies die Kritik der Ärztin, sie nicht ernst genug genommen zu haben, von sich. Man habe sogar mehr als bei anderen unternommen. Auch einzelne Beamte hatten ihr geraten, sich öffentlich zurückzunehmen. Doch sie wollte nicht schweigen. Immer noch unaufgeklärt ist, wie Abschiedsbriefe, die die Polizei sichergestellt hatte, kurz nach dem Suizid an Boulevardmedien gerieten.


Der psychiatrische Sachverständige

Der psychiatrische Sachverständige Peter Hofmann, der im Ermittlungsverfahren und auch vor Gericht umfassend über Kellermayr aussagte, die er zu Lebzeiten nie kennengelernt hatte, beschrieb eine histrionische (egozentrische, übertrieben emotionale) Persönlichkeitsstörung. Die von der Polizei sichergestellte Rechnung über eine Louis-Vuitton-Tasche und Buchungen in teuren Hotels sollten diesen Charakter untermauern. Auch konstatierte Hofmann wie nebenbei, dass Kellermayr eine Vergewaltigung in ihrer Jugend wohl nur erfunden hatte. DER STANDARD wollte nachfragen, wie er darauf gekommen sei, doch Hofmann stand dafür nicht zur Verfügung.


Der Täter

Der Beschuldigte Roman M. ist mehrfach, auch wegen Gewaltdelikten und Bandenkriminalität, vorbestraft. Dies wurde schon zu Lebzeiten Kellermayrs bekannt und verstärkte ihre Angst vor ihm. Trotz seiner Vorgeschichte schien vor Gericht niemand seine Glaubwürdigkeit zu hinterfragen. Niemand sagte ihm und damit stellvertretend allen Verfassern von Hassbotschaften, er hätte sich aus der Öffentlichkeit “zurücknehmen” sollen. Er beschrieb sich selbst als Opfer, weil er große Angst vor den Impfungen habe. Seine Verteidiger meinten u. a., ihr Mandant hätte mit dem “noch einzurichtenden Volkstribunal” nur legitime bestehende Gerichte gemeint. Diese muss aber niemand mehr einrichten. Es gibt sie schon. (Colette M. Schmidt, 10.4.2025)


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