Das blaue Bergdorf: Wo die FPÖ am besten abschnitt
Es ist eine besondere Stimmung am frühen Morgen im Samnauner Talkessel. Sonnenstrahlen brechen durch den Nebel und geben den Blick auf den blauen Himmel frei. Nachts hat es in höheren Lagen geschneit, die Gipfel leuchten wie angezuckert. In dem Schweizer Wintersportgebiet herrscht noch Ruhe, nur in einem der Dorfcafés sammeln sich eine Handvoll ältere Männer. Die Senioren tratschen, die Themen wechseln schnell, die Bedienung stimmt mit ein. Es geht um den Kauf eines Ferraris, um den Raketenangriff des Iran auf Israel in der Nacht zuvor, um den alten Hund, der unter einem der Tische döst. Und dann reden sie über Spiss, die Nachbargemeinde in Tirol, die nur der Schergenbach vom Terrain der Graubündner Kommune Samnaun trennt.
Spiss, in dem etwa hundert Einwohner gemeldet sind, sorgte bei der österreichischen Nationalratswahl am vergangenen Wochenende für Aufsehen. 66,7 Prozent der abgegebenen Stimmen entfielen dort auf die FPÖ. Das war ein doppelter Österreichrekord für die Truppe von Herbert Kickl: das beste Ergebnis und der stärkste Zugewinn – satte 48,7 Prozentpunkte plus.
Warum das Ergebnis in Spiss so ausgefallen ist? In Samnaun hat man Erklärungen parat. Die Leute habe Corona “etwas radikaler” gemacht, meint die Bedienung, sie zeigt Verständnis. Sätze über die Impfpflicht fallen, einer der Senioren sagt etwas von “Misswirtschaft der ÖVP”.
Emotional sind beide Gemeinden einander nahe, örtlich sowieso. Sechs Kilometer trennen Dorf von Dorf, mit dem Auto dauert es weniger als zehn Minuten. Spiss wirbt damit, “die höchstgelegene Gemeinde Österreichs an der Sonnenseite des Samnauntals” zu sein. Es handelt sich um eine Streusiedlung auf mehr als 1600 Meter Höhe, die Höfe und Häuser stehen meist allein, es ist ein Leben in Hanglage. Ein Dorfzentrum hat sich nicht herausgebildet. Einige Einheimische halten Schweine, Kühe und Schafe, sie bieten Ferienwohnungen und Gästezimmer an. Eine fixe Gastronomie und einen Dorfladen gibt es nicht. Die Kirche wurde im 17. Jahrhundert errichtet, nachdem im Dreißigjährigen Krieg eingefallene Schweizer die meisten Höfe abgebrannt hatten. Feindschaft ist längst Vergangenheit. Viele Einwohner von Spiss pendeln, in Samnaun gibt es Jobs.
Schwarzes Kernland
Politisch gebe es nur die ÖVP, wie ein Einwohner sagt. Im Gemeinderat sitzen nur Vertreter der Konservativen, nur sie sind optisch präsent in Spiss: In einem Schaukasten der Volkspartei ist ein Poster zu sehen mit vier Männern und einer Frau, die für den Nationalrat kandidierten. “Mehr Tirol ins Parlament!”, steht dabei. Offen will hier in kaum jemand über die Wahl reden, zumindest nicht unter Namensnennung. “Da wird keiner zugeben, dass er die FPÖ gewählt hat”, sagt jemand, der anonym bleiben soll.
Offen spricht Alois Jäger mit dem STANDARD. Der Landwirt sitzt im Gemeindehaus und beantwortet in diesen Tagen all die Medienanfragen, er ist Bürgermeister von Spiss und Mitglied in der ÖVP. Doch, das Wahlergebnis habe ihn schon überrascht, sagt Jäger mit leiser Stimme. “Dass es eng wird, dacht ich schon, aber nicht, dass die FPÖ so klar vorn liegt.” In Spiss gibt es keine Migranten, hierher verirrt sich kein mittelloser Ausländer, es gibt keine Neutralitätsdebatte, keine Spionageaffären. Die lärmenden Possen, die die Wiener Politarena liefert, sind so weit, weit weg von der alpinen Idylle, in der das lauteste Geräusch oft das Rauschen des Schergenbachs ist, das vom Talgrund heraufdringt. Was also hat den Großteil der Wählenden von Spiss dazu gebracht, für die FPÖ zu stimmen? “Das Ergebnis hat aus meiner Sicht mit den Ereignissen der Corona-Zeit zu tun”, sagt Jäger. Da waren die Lockdowns, all die Einschränkungen, die im dünn besiedelten Hochgebirge vielen wie eine realitätsfremde Spinnerei aus dem fernen Wien vorkamen.
Bürgermeister Jäger ist keiner, der poltert, er versucht zu erklären: “Die Regeln waren offenbar für die Stadt gemacht, wo man Tür an Tür lebt”, sagt er. Doch in Spiss wirkten diese Regeln sinnlos. “Warum sollte man hier nicht vor die Türe gehen, wenn der nächste Hof mehr als hundert Meter entfernt liegt?” Was die hohe Politik besser machen könnte? Jäger überlegt kurz, dann sagt er: “Das eigene Handeln in der Corona-Zeit kritisch hinterfragen.”
Hört man sich in Spiss um, ist auch die Rede von einem beliebten Mitbürger, bei dem nach der dritten Impfung Knochenmarkkrebs festgestellt wurde. Er ist mittlerweile verstorben. Manche im Dorf glauben, die Immunisierung habe ihn todkrank gemacht – offenbarer Unsinn, den aber nicht wenige glauben.
Tatsächlich reicht die Impfskepsis gerade in Tirol lange zurück. Als 1806 die Bayern im Gefolge des Napoleonischen Frankreichs kurzzeitig Tirol zugeschlagen bekamen, wollte die neue Obrigkeit die Einwohner gegen die tödlichen Pocken impfen. Für damalige patriotische Schwurbler war das ein Versuch, der Bevölkerung “bayerisches Denken einzupflanzen”. Als die Habsburger später auf Vakzine gesetzt hätten, sei ebenfalls Widerstand aus Tirol gekommen, was Tausende das Leben gekostet habe, schrieb ein einheimischer Arzt in einem Text für die Tiroler Ärztekammer im Jahr 2021, als Corona wütete. Er glaube, das medizinische Personal empfinde in der aktuellen Pandemie “dieselbe Frustration” wie die Vorgänger vor 200 Jahren.
Immer wieder Corona
Gab also FPÖ-Chef Herbert Kickls Positionierung aufseiten der Pandemiemaßnahmengegner und Corona-Leugner allein den Ausschlag für den blauen Triumph im Hochgebirge? Eine besondere Vorliebe für die FPÖ in Spiss macht der Bürgermeister nicht aus, wohl aber eine Anfälligkeit mancher Mitbürger für Falschinformationen. “In den sozialen Medien wie Facebook steht auch viel Unsinn”, sagt er. Aber gerade die Jungen holten sich ihre Informationen vor allem aus dem Internet. Dafür, dass bei der Bundespräsidentenwahl der FPÖ-Kandidat Walter Rosenkranz in Spiss ebenfalls einen Bestwert holte, hat Jäger eine simple Erklärung: Die meisten hätten ein jüngeres Staatsoberhaupt bevorzugt als den Tiroler Alexander Van der Bellen.
Wenn man mit Menschen aus dem Tiroler Oberland über das Wahlverhalten spricht, kommt bei vielen die Sorge durch, dass man als “Trottel aus der Provinz” abgestempelt werden könnte. Doch tatsächlich scheint die Gesellschaft in diesen krisenhaften Zeiten hier, tief im Gebirge, aus dem Fugen zu geraten. Eine Kellnerin im Nachbarort Pfunds schildert, wie der für Spiss zuständige Pfarrer in diesen Tagen digital angegangen werde. Der Geistliche habe auf Facebook geschrieben, dass er sich schäme für den Wahlausgang – worauf ein Shitstorm begann. Die Bedienung scrollt auf ihrem Handy und reicht es über den Tisch. Unter dem simpel gehaltenen Post des Pfarrers finden sich dutzende kritische Kommentare, manche mit drohendem Unterton. Die Kellnerin findet das nicht richtig: “Für den Pfarrer gilt doch genauso Meinungsfreiheit.” Dass die FPÖ so großen Zuspruch findet, kann sie allerdings nachvollziehen.
Ein Teil der Erklärung, warum man in Spiss politisch so abgestimmt hat, findet sich auch in der Vergangenheit, und sie hat auch mit dem abgelegenen Samnaun zu tun. Erst nach 1830 gelangten Menschen und Waren leichter vom oberen Inntal in Tirol zu dem Schweizer Ort und zurück auf einem Karrenweg, der an Spiss mit seinen Bauernhöfen und seiner Kirche vorbeiführte.
Skifahren und Zollfreiheit
Die imposante Bergwelt mit ihren schroffen Abgründen, das enge Tal mit den wilden Wassern des Schergenbachs, der wenig später in den Inn mündet, all das ließ frühe Wanderer erschaudern. “Nur dem lichtscheuen Schmuggler ist dieser sonnenlose Ort willkommen”, heißt es in einer Beschreibung von 1890. 20 Jahre später erwähnte der Reiseführer Baedecker die Spissermühle, den Grenzübergang, an dem Menschen und Waren die Seite wechselten – legal wie wohl auch oft illegal. Denn die Eidgenossenschaft hatte die Attraktivität des Samnaun erhöht, indem sie die abgeschiedene Gemeinde zur einzigen zollfreien Zone des Landes erklärt hatte. Dieses Privileg überdauerte die Zeiten, es brachte den Wohlstand nach Samnaun. Die Seilbahn wurde gebaut, das Skigebiet wurde erschlossen, man kann rübergleiten nach Ischgl. Samnaun besteht heute aus feinen Läden, Bars und Hotels mit Wellnessbereich und gehobener Gastronomie. Österreicher kurvten schon vor Jahrzehnten zum Einkaufen auf der Straße vom oberen Inntal gen Samnaun, manche fuhren sogar extra zum Tanken von Innsbruck her, erzählt ein älterer Mann aus Spiss. Den österreichischen Ort passierten damals wie heute die meisten Auswärtigen nur, das Geld geben sie in der Schweiz aus, nicht in Spiss.
Pandemie als Zäsur für Pendler
Doch vom Samnauner Wohlstand profitierten auch die Menschen in Spiss, es fanden ja so viele dort drüben eine Beschäftigung. Als die Pandemie über die Welt hereinbrach, bedeutete das auch eine Zäsur für die Pendler aus Spiss. Der Übergang über den nahen Grenzbach sei phasenweise gesperrt worden, “angeblich wegen Personalmangels”. Die Folgen für die Arbeitnehmer aus Spiss fielen drastisch aus. Die Leute hätten demnach einen beachtlichen Weg fahren müssen, 25 Kilometer kurvenreiche Schlängelstraßen statt sechs Kilometer relativ einfache Strecke. “Viele empfanden das als Schikane”, sagt der Bürgermeister. Dazu kam noch, dass zeitweise ein frischer Corona-Test vorliegen musste bei der Wiedereinreise aus der Schweiz, wo das Pandemieregime ungleich liberaler ausfiel als in Österreich. Das habe viele Menschen in der Region massiv gewurmt, bestätigt die Kellnerin aus Pfunds. Auch sie hat sich nicht impfen lassen, aus einem diffusen Gefühl heraus.
Bleibt die Frage, was man sich von Herbert Kickl und seiner Partei gerade hier im ländlichen Raum verspricht. Eine andere Einwohnerin von Pfunds muss lachen: “Gerade von der FPÖ am allerwenigsten.” Den Nachbarn in Spiss sei es nur um Protest gegangen. Womöglich fällt die nächste Wahl wieder ganz anders aus: In Spiss haben schließlich nur 51 Bürger abgestimmt – und 34 votierten für die Blauen. (Oliver Das Gupta, 6.10.2024)
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