Offene Fragen zur Zukunft Syriens

Kämpfer der Gruppe hatten vor wenigen Tagen eine Offensive gegen die syrische Armee begonnen, übernahmen die Kontrolle über die Hauptstadt Damaskus und erklärten am Sonntag den Sturz Assads. Er floh mit seiner Familie nach Russland. In internationalen Pressekommentaren war am Montag die Rede von einer möglichen Zeitenwende für Syrien, gleichzeitig bleiben die Rebellen schwer einzuschätzen. Außerdem dämpfen Beispiele wie der Irak und Libyen die Euphorie.

Ein Grund für Bedenken ist die Biografie des Anführers der Miliz, Abu Mohammed al-Dschawlani, mit bürgerlichem Namen Ahmed Hussein al-Scharaa. Er hatte sich 2003 extremistischen Gruppen im Irak angeschlossen, ab 2011 führte er in Syrien die Al-Nusra-Front, einen Ableger des Terrornetzwerks al-Kaida, an. Die USA setzten ein Kopfgeld von zehn Millionen Dollar (knapp 9,5 Mio. Euro) auf ihn aus. Später kam es zum Bruch mit al-Kaida. Der heute 42-Jährige gab sich zunehmend moderat. UNO, USA und EU stufen HTS dennoch als Terrororganisation ein.

Ende eines „Alptraums“ und unklare Perspektiven

Mit den Rebellen an der Macht bleibe die Zukunft des von Krieg zerrütteten Landes denkbar ungewiss, hieß es am Montag in einer Analyse des US-Senders CNN. Für die Syrer und Syrerinnen sei der „Alptraum“ Assad vorüber, kommentierte die „Washington Post“. Fraglich sei nur, ob Euphorie angebracht sei angesichts der Frage, „was als Nächstes kommt“. Die Rebellen hätten eine „schwierige Vergangenheit“ und versprächen eine „unberechenbare Zukunft“.

Iranische Zeitungen berichten vom Sturz Assads

Reuters/WANA/Majid Asgaripour
Iranische Zeitungen berichten über den Sturz Assads

Ähnlich der niederländische „Telegraaf“: Bei aller Euphorie über den Umbruch in Syrien sei Zurückhaltung geboten. Nach der Revolution im Iran und Jahre später dem Sturz des irakischen Despoten Saddam Hussein sei der Jubel ebenfalls groß gewesen. „Im Iran terrorisieren heute die Ajatollahs die Bürger und finanzieren den Kampf gegen Israel. Und im Irak hat sich die Lage der Bevölkerung auch nicht verbessert.“

Terrorismusforscher zu syrischen Rebellen

Extremismusforscher Peter Neumann vom King’s College London spricht im ZIB2-Interview unter anderem über Herkunft und Ziele der siegreichen islamistischen Rebellen in Syrien.

Irak, Afghanistan und Libyen

„Wenn man an den Irak, an Afghanistan oder Libyen denkt, gibt es viele Gründe, hinsichtlich der künftigen Entwicklung in Syrien nicht optimistisch zu sein“, schrieb der belgische „Standaard“. Nach Diktatur und Bürgerkrieg wachse in einem Land mit religiösen und ethnischen Spannungen „nicht von selbst eine liberale Demokratie heran“.

Zerstörte Statue von Hafez al-Assad

Reuters/Orhan Qereman
Sturz eines Diktators „keine Garantie für Frieden und Freiheit“

Es bleibe vor allem abzuwarten, wie repressiv die islamische Herrschaft des neuen Machthabers Dschawlani ausfallen werde. „Die harten Lektionen aus Irak, Afghanistan und Libyen haben gezeigt, was nicht funktioniert.“ Wie in Ägypten, Libyen, Tunesien, im Jemen und dem Sudan zu sehen gewesen sei, „mag die Freude über den Sturz eines Diktators zwar groß sein, hält aber meist nur kurz an und bedeutet keinerlei Garantie für Frieden und Freiheit“, so die tschechische „Prawda“.

HTS-Anführer verspricht friedlichen Machtwechsel

Dschawlani versprach jedenfalls einen friedlichen Machtwechsel. Öffentliche Einrichtungen in der Hauptstadt Damaskus würden „bis zur offiziellen Übergabe“ unter Aufsicht des früheren Ministerpräsidenten Mohammed al-Dschalali bleiben, sicherte er zu. Dschalali will nach eigenen Worten kooperieren. „Wir sind bereit, (die Macht, Anm.) an die gewählte Führung zu übergeben“, sagte er in einer Videobotschaft am Wochenende.

Zivilisten auf einem Panzer in Damaskus

Reuters/Mahmoud Hassano
Zivilisten auf einem Panzer in Damaskus

Die Bevölkerung rief er dazu auf, ebenfalls zu kooperieren und kein öffentliches Eigentum zu beschädigen. Syrien könne ein „normaler Staat“ sein mit freundschaftlichen Beziehungen zu seinen Nachbarn. Er selbst habe kein Interesse an irgendeinem politischen Amt oder anderen Privilegien, sagte Dschalali.

Gouverneur von Idlib soll neue Regierung bilden

Montagabend berichteten mehrere arabische Medien, dass der bisherige Gouverneur der Rebellenhochburg Idlib, Mohammed al-Baschir, mit der Bildung einer neuen syrischen Regierung beauftragt werden solle.

Regimewechsel in Syrien

Nach dem Sturz von Machthaber Baschar al-Assad wollen die Aufständischen in Syrien nach eigenen Angaben rasch eine neue Regierung bilden. Das teilte die islamistische Gruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) am Montag mit. International wird noch nach einem Umgang mit den Islamisten gesucht.

Der bisher amtierende Ministerpräsident Mohammed al-Dschalali sagte in einer Fernsehansprache, er werde die Übergangsregierung unterstützen. „Es finden Gespräche statt, um den Übergang zu regeln“, sagte Dschalali. „Was in Syrien passiert ist, ist eine Revolution. Es ist der Wille des Volkes und sein Wunsch nach Veränderung.“

Paris und Berlin äußern Bereitschaft zu Zusammenarbeit

Die EU unterhält nach eigenen Angaben derzeit keine Kontakte zu der Gruppe, die maßgeblich für den Sturz Assads verantwortlich ist. Ein Sprecher der EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas verwies in Brüssel darauf, dass HTS und mit ihr verbundene Personen weiter auf der Terrorliste der UNO stünden und deswegen mit EU-Sanktionen belegt seien.

Der deutsche Kanzler Olaf Scholz und der französische Staatspräsident Emmanuel Macron zeigten sich bereit, „mit den neuen Machthabern zusammenzuarbeiten, auf der Basis grundlegender Menschenrechte und dem Schutz ethnischer und religiöser Minderheiten“. Das sagte der Sprecher der deutschen Regierung nach einem Telefonat der beiden.

Kurdenmilizen sehen „historische Momente“

Ein weiterer relevanter Akteur in dem Konflikt in Syrien sind kurdische Milizen. Sie sahen nach Assads Flucht die Chance für einen politischen Neuanfang. „Diese Veränderung bietet eine Gelegenheit, ein neues Syrien aufzubauen auf der Grundlage von Demokratie und Gerechtigkeit“, erklärte der Kommandant der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), Maslum Abdi.

„In Syrien erleben wir historische Momente, während wir den Sturz des autoritären Regimes in Damaskus erleben“, teilte Abdi mit. Die SDF, die von Kurdenmilizen angeführt werden, kontrollierten zuletzt Gebiete im Nordosten Syriens, die etwa 30 Prozent des Landes ausmachten. Sie sind die stärkste bewaffnete Gruppe in den autonomen Kurdengebieten. Die SDF waren auch ein wichtiger Partner der US-Koalition zum Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS).

Israel reagiert militärisch

Israel reagierte militärisch auf den Umsturz in Syrien. Die israelische Armee zerstörte nach Angaben von Außenminister Gideon Saar Waffensysteme, darunter solche mit Langstreckenraketen, im Nachbarland, um zu verhindern, dass diese in die Hand „extremistischer Gruppen“ fielen.

Grafik zu Allianzen im Nahost-Konflikt

Grafik: APA/ORF

Außerdem rückten israelische Truppen in die Pufferzone zu Syrien auf den Golanhöhen ein. Die UNO sah darin eine Verletzung des 1974 abgeschlossenen Abkommens zwischen Israel und Syrien. Sein Land werde keinen „feindlichen Kräften“ erlauben, sich dort festzusetzen, sagte hingegen Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.

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