Syrien zurück auf medialer Landkarte
Am Donnerstag wurde berichtet, ein General, der für zahlreiche Todesurteile im berüchtigten Saidnaja-Gefängnis verantwortlich sein soll, sei festgenommen worden. Mohammed Kanjo Hassan, der unter Assad Chef der Militärjustiz war, sei mit 20 Begleitern in der Ortschaft Chirbet al-Maasa gefasst worden. Eine unabhängige Bestätigung stand lange aus – nur ein Beispiel, wie heikel die Informationslage noch immer ist.
Als sich in Syrien Anfang Dezember die Ereignisse überschlugen und die HTS-Rebellen in Richtung Damaskus vorrückten, herrschte weit über den Nahen Osten hinaus Informationschaos. Eine Aufnahme eines früheren Anschlags aus dem Jahr 2013 wurde etwa als vermeintlich aktuell beschrieben, genauso ein Video von einem Schießstand aus Kentucky in den USA.
Breaking-News-Situationen sind immer Hochzeiten für Falschinformationen. Teils absichtlich, oftmals aber auch versehentlich, vermengen sich aktuelle Aufnahmen mit alten Fotos und Videos. Ist noch wenig Wissen über eine neue Situation etabliert, führt ähnlich wirkendes Material besonders leicht zu Verwechslungen. Gleichzeitig ist das Interesse meist groß, Redaktionen in Zeitnot übernehmen vereinzelt falsch beschriebene Aufnahmen und haben Schwierigkeiten mit der Verifikation von Material.
Kapitalisierung von Aufmerksamkeit
Das Problem in solchen Situationen kennt auch Christopher Resch, Pressereferent bei Reporter ohne Grenzen, der sich auf den Nahen Osten spezialisiert hat. „Das lädt natürlich zu vorschnellen Schlüssen ein oder zu Beurteilungen, die ein bisschen aus der Not geboren sind.“
Aber nicht nur die Unübersichtlichkeit der ersten Stunden ist für Verwirrung verantwortlich. Soziale Netzwerke sind zwar wichtige Informationsquellen, ihre Algorithmen verstärken aber auch genau jene Inhalte, die besonders starke Emotionen auslösen. Da dramatische Aufnahmen mehr Klicks bringen, machen soziale Netzwerke Hoffnung und Horror zu Geld, differenziertere Einordnungen haben teils das Nachsehen. Gleichzeitig verleiten emotionale Ausnahmesituationen beim Teilen zu weniger Sorgfalt.
Jede Menge falscher Bilder und Videos
Auch nach der Einnahme der Hauptstadt Damaskus waren wesentliche Entwicklung in Syrien von Falschmeldungen begleitet. Als die Familie Assad das Land verließ und nach Russland floh, kursierte kurz darauf ein vermeintlich aktuelles Bild, das Assad in Moskau zeigen soll – in Wahrheit entstand es bei einem Krankenhausbesuch 2023 in Aleppo.
Als die Insassen des berüchtigten Gefängnisses Saidnaja befreit wurden, teilten Tausende ein mit Hilfe von KI erstelltes Video und eine Aufnahme aus einem Museum in Vietnam, um die Szenen zu illustrieren.
Nur kurze Zeit nachdem HTS die Macht übernommen hatte, verbreitete sich zudem ein Video einer aufgebrachten Menschenmenge aus dem Mai 2024 mit der Behauptung, es gebe bereits erste Proteste gegen die neuen Verhältnisse. Genauso teilten Nutzerinnen und Nutzer ein Video angeblicher Flüchtlingsströme auf dem Weg nach Europa. Auch dieses Video ist alt und hat nichts mit der aktuellen Situation in Syrien zu tun.
Syrien als „schwarzes Loch“
Zur Schwierigkeit der sich ständig überschlagenden Ereignisse kommt noch ein weiteres Problem: Syrien war jahrelang quasi abgeschottet. „Es war ein schwarzes Loch, in dem Sinne, dass keine Informationen nach außen gedrungen sind“, erklärt Resch. Nicht ohne Grund findet sich Syrien auf dem vorletzten Platz auf der Rangliste der Pressefreiheit der Organisation. In einigen Gebieten sei es „fast unmöglich“ gewesen, journalistisch zu arbeiten.
In Krisen- und Kriegszeiten würden Journalisten oft als einflussreicher Teil einer bestimmten Seite gesehen, erklärt Resch. Daher fehlen heute verlässliche Verbindungen ins Land. Das ist nicht zufällig: „Es ist durch das Regime von Assad gezielt verunmöglicht worden, selbst einen Augenschein vorzunehmen oder selbst Kontakte zu pflegen und aufzubauen.“ Resch berichtet, dass aktiv kriminalisiert worden sei, wenn jemand im Land mit internationalen Quellen zusammengearbeitet habe. Im schlimmsten Fall stand darauf Gefängnis und Folter, mit abschreckender Wirkung.
Beobachtungsstelle jahrelang Hauptquelle
Die Folgen dessen sind jetzt spürbar. Als Beispiel nennt Resch etwa die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, eine in Großbritannien ansässige Organisation, die Informationen im Land sammelt und in den vergangenen Jahren vielfach als Quelle zitiert wurde. Dahinter steht ein Einmannbetrieb, der allerdings auf ein sehr breites Informantennetzwerk in Syrien zurückgreifen kann.
Oft sind ihre Berichte in Medien aber mit dem Vermerk versehen, dass die Informationen nicht unabhängig überprüft werden konnten. „Das Problem ist, dass man die Leute vor Ort nicht erreichen kann. Die sind natürlich notwendigerweise anonym.“
Arbeit in Syrien wichtig
Wie verifizieren Medien also Informationen aus Syrien? Resch spricht von einer Mischung aus Sprachkenntnissen, Geolokalisierung – also einer journalistischen Technik zur Ortsbestimmung – und lokalen Kenntnissen. Auch der ORF gleicht Bilder mit anderen Aufnahmen ab und bestimmt so etwa den Aufnahmeort von Material.
Aktuell hätten viele internationale Medien und Nachrichtenagenturen auch schnell zusätzliche Leute nach Syrien geschickt. Diese lieferten dann direkt Material und Berichte an ihre jeweiligen Redaktionen. Wesentlich ist aber auch hier die Arbeit von lokalen Journalisten, die ihre Expertise und Kontakte teilen.
Assads Schatten
Der Syrer Mohammed Daud ist vorige Woche nach 13 Jahren aus einem berüchtigten Militärgefängnis in der Nähe von Damaskus befreit worden. Der heute 35-Jährige ist schwer traumatisiert, erkennt seine eigene Mutter nicht mehr. Karim El-Gawhary hat Daud und seine Familie getroffen.
Wie es in Syrien und mit Syriens Medienlandschaft weitergeht, ist ungewiss. Auch Christopher Resch meint: „Es ist einfach so viel im Fluss, und vieles, was heute gesendet wird, wird sich in der nächsten Woche schon als veraltet herausstellen.“
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