ÖVP-Chef Stocker: “Ich bin nicht die Nanny der FPÖ”

Christian Stocker zieht im Gespräch mit dem STANDARD Grenzen für die Koalitionsgespräche mit der FPÖ: “Für uns ist klar: Ein Öxit kommt nicht infrage.”
Foto: Heribert Corn

Christian Stocker wurde selbst davon überrascht, dass er die ÖVP übernehmen soll. Seine Frau habe aus den Medien davon erfahren, erzählt er im Medienraum der ÖVP-Zentrale in der Wiener Innenstadt. Jetzt führt Stocker die Volkspartei in Verhandlungen mit FPÖ-Chef Herbert Kickl – obwohl er das immer ausgeschlossen hatte. Das sei ein Risiko, gibt er zu.


STANDARD: Wo endet die Wahlkampfstrategie, wo beginnt die Unwahrheit?


Stocker: Ich bin mir bewusst, dass ich mit diesem Schritt meine Reputation aufs Spiel setze und womöglich sogar Vertrauen verloren habe. Aber ich bin als Anwalt wirtschaftlich unabhängig. Ich muss niemandem gefallen, ich muss nichts mehr werden. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es notwendig ist, Verhandlungen mit der FPÖ aufzunehmen. Es geht jetzt nicht um mich, das Land braucht dringend eine Regierung.


STANDARD: Sie haben FPÖ-Chef Herbert Kickl als “rechtsextrem” und als “Sicherheitsrisiko” bezeichnet. Was hat sich an Kickl übers Wochenende verändert, sodass Sie jetzt mit ihm über eine Koalition verhandeln können?


Stocker: An Herbert Kickl hat sich gar nichts verändert.


STANDARD: Also bleibt er ein Sicherheitsrisiko für Österreich?


Stocker: Alle Bedenken, die ich hatte, habe ich auch jetzt noch. Geändert hat sich nur, dass ich jetzt etwas anderes mache, als ich vorher gesagt habe – und mit ihm in Verhandlungen gehe. Ob sich das im Ergebnis als richtig herausstellt, wird die Zukunft zeigen.


STANDARD: Sie verhandeln jetzt also mit jemandem, den Sie für ein Sicherheitsrisiko halten.


Stocker: Ich kann auch nicht ausschließen, dass die Verhandlungen zu keinem Ergebnis kommen. Wir gehen ernsthaft hinein, aber es gibt Grenzen.


STANDARD: Wo liegen die?


Stocker: Für uns ist klar: Ein Öxit kommt nicht infrage. Wir sind ein verlässlicher Partner in der Europäischen Union. Einflussnahme aus dem Ausland – insbesondere Russland – ist nicht zu akzeptieren. Und die Grundlage allen politischen Handelns ist der Rechtsstaat. Wir orientieren uns an der freien, westlichen Welt und nicht an autoritären Regimen, das habe ich ganz klar gesagt.


STANDARD: Und wie hat Kickl darauf reagiert?


Stocker: Inhaltlich noch gar nicht. Bisher haben wir nur abgesteckt, dass wir verhandeln wollen.


STANDARD: Denken Sie, Sie werden Vertrauen zu Herbert Kickl aufbauen können?


Stocker: Ich würde es nicht ausschließen. Wir müssen Koalitionen vielleicht aber auch anders sehen als in der Vergangenheit. Manchmal entstand der Eindruck: Wenn sich Koalitionen finden, verschmelzen die Parteien. So ist das aber nicht. Es entsteht nicht mehr als ein Programm für fünf Jahre, wo man sich zur Umsetzung von Vorhaben die parlamentarische Mehrheit zur Verfügung stellt.

“Regieren wird auch für die FPÖ ein Rendezvous mit der Realität”, sagt Christian Stocker im Gespräch mit STANDARD und “Kleine Zeitung”.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Eine klare Forderung der FPÖ ist es, keine Asylwerber mehr ins Land zu lassen. Ist ein Asylstopp in einem Rechtsstaat denkbar?


Stocker: Ich verhandle nicht über die Medien. Grundsätzlich klar ist: Es gibt im europäischen Rechtsrahmen Notfallklauseln, was die Aufnahme von Asylwerbern betrifft. Da gibt es aber Bedingungen. Regieren wird auch für die FPÖ ein Rendezvous mit der Realität.


STANDARD: Sie stellen den Öxit außer Frage, die FPÖ nicht?


Stocker: Das werden wir noch sehen.


STANDARD: Die FPÖ hält die Sanktionen gegen Russland für falsch. Bleibt die ÖVP bei ihrer klaren Position in Bezug auf den Ukrainekrieg und im Umgang mit Wladimir Putin?


Stocker: An unserer Position wird sich da sicher nichts ändern. Es ist ja nicht nur der Angriffskrieg Russlands, der Europa schwer in Mitleidenschaft gezogen hat. Es ist auch nicht nur die Frage nach Energielieferungen. Es muss uns klar sein, dass in westlichen Demokratien Informationen bis hin zu Wahlen beeinflusst werden. Wahrscheinlich aus Russland, um den Westen zu destabilisieren.


STANDARD: Da sind wir beim Verfassungsschutz, der von Kickl als Innenminister zerstört wurde, wie Sie es bisher formuliert haben. Ist ein Innenministerium in den Händen der FPÖ noch einmal denkbar?


Stocker: Ich habe Vorstellungen, aber die werde ich jetzt nicht öffentlich ausrichten.


STANDARD: Wie verfahren Sie mit den als rechtsextrem eingestuften Identitären? Unter Herbert Kickl sind deren Verbindungen zur FPÖ so eng wie noch nie.


Stocker: Für die Freiheitliche Partei übernehme ich keine Verantwortung.


STANDARD: Die ÖVP würde der FPÖ gewähren, den Kanzler zu stellen. Daraus erwächst keine Verantwortung?


Stocker: Ich gewähre der FPÖ gar nichts.


STANDARD: Sie schließen also nicht aus, dass Identitäre bald in staatlichen Institutionen oder Ministerbüros arbeiten könnten?


Stocker: Ich werde keine Personallisten der Freiheitlichen kontrollieren. Ich bin auch nicht die Nanny der FPÖ. Aber wir werden unsere Verantwortung wahrnehmen.


STANDARD: Könnten mit der FPÖ Steuern eingeführt werden, die Sie in Gesprächen mit der SPÖ noch abgelehnt haben?


Stocker: Es wäre wohl ein falscher Zugang, wenn das, was wir mit der SPÖ nicht machen wollten, jetzt mit der FPÖ tun. Das Budget ist ausgabenseitig zu konsolidieren.


STANDARD: Manche mutmaßen, die FPÖ könne auf Sparvorgaben pfeifen. Außer Streit steht also, dass konsolidiert werden muss?


Stocker: Ja, selbstverständlich.


STANDARD: Jedenfalls sind Sie die Nanny Ihrer Partei. In der ÖVP gibt es scharfe Kritiker einer Koalition mit Kickl. Kam es bereits zu Austritten?


Stocker: Natürlich gibt es viele, die eine Koalition mit den Freiheitlichen sehr kritisch sehen, die Befürchtungen haben, was daraus entstehen kann. Das war aber bei den Verhandlungen der sogenannten Ampel – vielleicht in einer geringeren Dimension – auch so. Es ist auf jeden Fall ein Risiko.


STANDARD: Wie wollen Sie Menschen beruhigen, die um die Demokratie besorgt sind?


Stocker: Was ich garantieren kann, ist, dass wir unser Wertefundament niemals aufgeben werden.

Der geschäftsführende ÖVP-Chef Christian Stocker sagt: “Ich bin gekommen, um zu bleiben.”
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Was ist Ihr Plan B? Neuwahlen? Oder wäre eine Minderheitsregierung denkbar?


Stocker: Für eine Minderheitsregierung würde sich im Nationalrat nicht die notwendige duldende Mehrheit finden.


STANDARD: Gab es noch Anrufe bei Ihnen von den Neos, den Grünen oder der SPÖ? Nach dem Motto: Reden wir noch einmal?


Stocker: Bei mir hat sich niemand gemeldet.


STANDARD: Die Alternative zu einer Koalition mit der FPÖ sind also Neuwahlen?


Stocker: Mit Prognosen bin ich inzwischen sehr vorsichtig geworden.


STANDARD: Ihr Aufstieg kam für die meisten völlig überraschend. Wann war klar, dass Sie die ÖVP übernehmen werden?


Stocker: Als ich am Sonntag zu jener Sitzung gefahren bin, in der ich zum geschäftsführenden Parteichef designiert wurde, hätte ich selbst nicht geglaubt, dass das passiert. Meine Frau hat davon aus den Medien erfahren.


STANDARD: Zuerst hieß es, Sie seien nur interimistisch Parteichef, das wurde dann korrigiert. Wie lange wollen Sie denn bleiben?


Stocker: Ich bin gekommen, um zu bleiben.


STANDARD: Sie wären also auch der Vizekanzler in einer blau-schwarzen Koalition?


Stocker: Das wäre die logische Konsequenz.

Christian Stocker galt als enger Vertrauter von Bundeskanzler Karl Nehammer. Er wolle die Partei in dessen Linie weiterführen.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Wenn Sie jetzt langfristig die Partei führen: Wie richten Sie die ÖVP aus? Werden Sie die Linie Karl Nehammers beibehalten?


Stocker: Natürlich, ich habe diese Linie in den vergangenen Jahren mitgetragen. Daran ändert sich nichts. Ich hätte es Karl Nehammer gewünscht, dass er noch Bundeskanzler ist. (Jan Michael Marchart, Katharina Mittelstaedt, 10.1.2025)


>read more at © Der Standard

Views: 0