Von Schanghai ins Wiener Klassenzimmer

Elisabeth Ganglberger wurde als Elisabeth Modern in Shanghai geboren.
Helena Lea Manhartsberger

“Wir erreichten unser ersehntes und gefürchtetes Ziel: Schanghai.” Es sind die letzten Worte, die Franz Modern über seine Flucht von Wien nach Schanghai niedergeschrieben hat. Seine Tochter, Elisabeth Ganglberger, erzählt heute, wie es dazu gekommen ist – und wie es danach weiterging. Seit vergangenem Jahr besucht die 84-Jährige als eine von zwölf Zeitzeuginnen und Zeitzeugen des OeAD-Programms Erinnern.at Schulklassen in Wien.


Zum 80. Mal jährt sich heuer das Kriegsende, der Staatsvertrag feiert 70, der Nationalfeiertag 60 Jahre, und seit 30 Jahren ist Österreich bei der EU. Das Bildungsministerium setzt daher einen Schwerpunkt in den Klassenzimmern. “Die Begehung des Gedenkjahres in den Schulen stärkt unsere demokratische Kultur. Schülerinnen und Schüler setzen sich mit der Bedeutung der Geschichte für die Gegenwart und Zukunft auseinander und damit, wie sie die Zukunft Österreichs gestalten wollen”, sagt Bildungsminister Martin Polaschek.


Weitere Generationen

Teil des Schwerpunkts ist auch eine Ausweitung des Zeitzeugenprogramms. “Jährlich erreichen die nach wie vor sehr aktiven Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bis zu 8000 Kinder und Jugendliche”, sagt Polaschek. Da aber jene, die den Schrecken des Nationalsozialismus am eigenen Leib zu spüren bekommen haben, immer weniger werden, sollen die Nachkommen nun stärker eingebunden werden. 2025 werden daher in einem Pilotprojekt von Erinnern.at Lernmöglichkeiten mit den Nachkommen jüdischer NS-Verfolgter konzipiert, erprobt und wissenschaftlich evaluiert, heißt es dazu aus dem Ministerium.

In einer gelben Mappe hat Elisabeth Ganglberger Dokumente gesammelt, etwa den Reisepass des Vaters mit dem chinesischen Visum, das der Familie die Flucht ermöglichte.
Helena Lea Manhartsberger

Ganglberger gilt gerade noch als Zeitzeugin. Die Grenze ist das Geburtsjahr 1945. In die Filiale der Kaffeehauskette Aida hat sie an diesem Nachmittag eine gelbe Mappe mitgebracht. Darin hat sie Dokumente ihrer Familiengeschichte gesammelt – etwa den Reisepass ihres Vaters mit der Anmerkung “Israel” zwischen Vor- und Nachnamen auf der ersten Seite und einem Hakenkreuzstempel auf seinem chinesischen Visum.


Ganglbergers Eltern leben in den 1930er-Jahren in Wien. Ihr Vater Franz Modern ist jüdischer Arzt, die Mutter Leopoldine eine katholische Bauerntochter aus dem Weinviertel. Nach den Novemberpogromen im Jahr 1938 beschließt das Paar, Österreich zu verlassen. “Mein Vater beginnt den Erlebnisbericht mit den Schwierigkeiten, überhaupt eine Möglichkeit zur Flucht zu finden”, sagt Ganglberger. Irgendwie kommen ihre Eltern an Schiffstickets nach Schanghai. Rund 20.000 Jüdinnen und Juden fliehen ab 1938 aus Europa vor den Nationalsozialisten in die internationale Sonderzone, für die kein Visum notwendig ist.

Wer ihren Eltern die Flucht finanziert hat, weiß Elisabeth Ganglberger bis heute nicht.
Helena Lea Manhartsberger

Von wem das Geld für die Tickets kommt, weiß Ganglberger bis heute nicht. “Meine Eltern hätten sich das nie leisten können. Mein Vater war zwar Arzt, aber die Ausübung ist ihm damals bereits verboten worden”, erzählt sie und vermutet: Ihre Eltern hätten den Namen geheimgehalten, um die Person, die ihnen die Flucht finanziert hatte, zu schützen.


Schanghai ist zu dieser Zeit geteilt – Bereiche der Stadt stehen unter chinesischer, japanischer, britischer, französischer und amerikanischer Besatzung. In China angekommen, geht es der Familie erst einmal gut. Franz Modern erhält eine Anstellung in einem amerikanischen Missionsspital – “weit, weit weg von Schanghai: Neben der Wüste Gobi, hat meine Mutter immer gesagt.”


Auf Druck der Nationalsozialisten verlangt Japan, damals als Verbündeter des Deutschen Reichs, Anfang der 1940er, alle Flüchtlinge in Schanghai zu konzentrieren. In dieser “Designated Area”, die nach Kriegsende als Ghetto eingestuft wird, kommt Ganglberger im Jahr 1940 als Elisabeth Modern zur Welt. Von den Behörden wird in ihrer Geburtsurkunde der jüdische Name Rachel eingetragen.


Heimreise per Schiff

In dem Armenviertel gibt es wenig. Verlassen dürfen es die Bewohnerinnen und Bewohner nicht. “Ich bin bis zum Kriegsende gar nie rausgekommen”, erinnert sich Ganglberger. “Es war es schon sehr arg – mein Vater hat unter den Umständen sicher sehr gelitten. Ich habe es aber gar nicht so schlimm empfunden, ich kannte es nicht anders”, sagt sie. Ganglberger zieht aus ihrer Mappe ein paar zerknitterte Schwarz-Weiß-Fotografien. “Da ist das Haus, in dem wir dann gewohnt haben.”


Immer wieder wird auch Schanghai bombardiert. “Meine allererste Erinnerung ist, dass es damals einen Bombenalarm gegeben hat und mein Vater die Matratze hinter uns aufgestellt hat, damit die Splitter uns nicht treffen.” Einen Keller oder andere Rückzugsmöglichkeiten gibt es nicht.

Den Impfpass, den sie für ihre Rückkehr benötigte, hat Elisabeth Ganglberger noch immer.
Helena Lea Manhartsberger

In der Designated Area geht Ganglberger in den Kindergarten. Nach Kriegsende kommt Ganglberger die Schule. Das Zeugnis der ersten Klasse hat sie behalten. Genauso wie drei gelbe Impfpässe: Am 28. Dezember 1946 wird sie gegen Pocken geimpft, zwei Tage später sind Cholera und Typhus dran. Die Impfungen braucht die Familie für ihre Heimreise. Im Jänner 1947 bricht sie Richtung Europa auf. “Ich bin das mit der Puppe – das herzige”, deutet sie auf ein Foto mit zwei kleinen Mädchen auf einem Schiff und lacht.

In einer Mappe hat Ganglberger auch Fotos aus ihrer Zeit in Shanghai gesammelt.
Helena Lea Manhartsberger

Zurück in Wien geht Ganglberger in die Volksschule. Ihr Vater beginnt, seine Erlebnisse niederzuschreiben. Doch 1950 stirbt er an den Folgen einer Infektion, die er sich in China geholt hat. Ganglberger setzt sich gegen die Mutter durch und besucht ein Gymnasium. Nach der Matura will sie Chemie studieren. Jahrelang zeigt sie nur ihren Taufschein vor, an der Universität will man ihre Geburtsurkunde sehen – jenes Dokument, wo der jüdische Name hinzugefügt wurde. Sie ändert ihn am Amt – lässt “Rachel” streichen. “So habe ich nie geheißen”, sagt sie: “Für mich war es kein Name, sondern eine Brandmarkung, mit der muss ich nicht herumlaufen.” Der Antisemitismus ist zu diesem Zeitpunkt noch tief in der Professorenschaft verwurzelt.


Wenig erzählt

Ihre Geschichte behält Ganglberger gegenüber ihren Schulkolleginnen und Mitstudierenden großteils für sich. “Ich habe möglichst wenig erzählt. Das tue ich eigentlich erst seit kurzem. Es war damals einfacher so. Ich wollte ja gar nicht wissen, wer belastet war”, sagt sie. Und: “Ich habe versucht, dem Antisemitismus auszuweichen, indem ich mich versteckt habe.”


Heute ist das anders: Neben einem Zeitzeugenseminar hat Ganglberger etwa zehn Schulbesuche in ihrem ersten Jahr absolviert. “Ich habe das Gefühl, dass es Sinn macht, den jüngeren, inzwischen noch jüngeren Generationen zu erzählen, wie es damals war.”


Auch im Ministerium sieht man das so: Das Zeitzeugenprogramm ermögliche Schülerinnen und Schülern “die Begegnung und das direkte Gespräch mit Überlebenden der NS-Verfolgung”, sagt Polaschek. Diese seien “aus pädagogischer Sicht besonders wertvoll”.

Seit einem Jahr erzählt Elisabeth Ganglberger als Zeitzeugin ihre Geschichte.
Helena Lea Manhartsberger

Neben diesem sollen heuer auch die Entwicklungen nach der Befreiung 1945 zum Beitritt Österreichs zur EU 1995 im Zuge der Aktionstage Politische Bildung tiefer beleuchtet werden. (Oona Kroisleitner, 21.1.2025)


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